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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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hell wurde und Cheiron rief.
    Wir aßen und eilten dann zum Fluss, um uns zu waschen. Ich kostete das Wunder aus, ihn ohne Scheu betrachten zu können, genoss den Anblick des gesprenkelten Lichts auf seiner Haut und der Wölbung des Rückens, als er ins Wasser tauchte. Später lagen wir am Ufer und studierten die Linien unserer Körper aufs Neue. Diese hier und jene dort. Wir waren wie die Götter zu Anbeginn der Welt, und unsere Freude war so hell, dass wir nichts anderes sahen als uns.
    Vielleicht bemerkte Cheiron die Veränderung in unserem Verhalten zueinander, doch er brachte es nicht zur Sprache. Ich machte mir Sorgen.
    »Glaubst du, er könnte wütend auf uns sein?«
    Wir lagen im Olivenhain auf der Nordflanke des Bergs. Hier war die Luft besonders süß, kühl und rein wie Quellwasser.
    »Nein.« Er zeichnete mit der Fingerspitze den Schwung meines Schlüsselbeins nach.
    »Vielleicht doch. Er wird es inzwischen wohl wissen. Sollten wir ihm nicht lieber etwas sagen?«
    Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Frage stellte. Wir hatten sie schon oft erwogen wie Verschwörer.
    »Wenn du willst.« So hatte er immer geantwortet.
    »Du glaubst nicht, dass er wütend wird?«
    Er dachte nach, ich liebte das an ihm. Egal, wie oft ich ihn fragte, wenn er antwortete, war es immer, als wäre es das erste Mal.
    »Ich weiß nicht.« Er schaute mich an. »Und wennschon. Es würde für mich nichts ändern.« Seine Stimme war warm und zärtlich. Ich spürte einen wohligen Rausch durch meinen Körper gehen.
    »Aber er könnte es deinem Vater sagen, und der wäre bestimmt wütend«, entgegnete ich fast verzweifelt. Mir wurde heiß und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
    »Na und?«
    Ich war schockiert. Dass er, auch wenn sein Vater wütend wäre, tun würde, was ihm beliebte, war so unerhört, dass ich es kaum glauben konnte. Ihn so sprechen zu hören war für mich wie eine Droge, von der ich immer mehr haben wollte.
    »Und was ist mit deiner Mutter?«
    Das war die Dreiheit meiner Ängste – Cheiron, Peleus und Thetis.
    Er zuckte mit den Achseln. »Was könnte sie schon tun? Mich entführen?«
    Sie könnte mich umbringen , dachte ich, sagte es aber nicht. Das laue Lüftchen war so wohlig, die Sonne so warm, dass ich einen solchen Gedanken nicht aussprechen mochte.
    Er musterte mich. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn sie wütend wäre?«
    Ja . Ich hatte schon immer Angst vor Missbilligung gehabt; sie steckte tief in mir drin, und ich konnte mich nicht so leicht von ihr befreien, wie es Achill offenbar vermochte. Trotzdem war ich entschlossen, nicht zuzulassen, dass sie uns entzweite. »Nein«, antwortete ich.
    »Gut«, sagte er.
    Ich streckte den Arm aus und streichelte die Härchen an seiner Schläfe. Er schloss die Augen. Ich betrachtete sein der Sonne zugewandtes Gesicht. Seine zarten Züge ließen ihn jünger erscheinen, als er war. Die Lippen waren voll und rot.
    Er öffnete die Augen. »Nenn mir einen Helden, der glücklich war.«
    Ich überlegte. Herakles verfiel dem Wahn und tötete seine Familie; Theseus verlor Braut und Vater; Jasons Kinder und seine neue Gemahlin wurden von deren Vorgängerin umgebracht; Bellerophontes bezwang die Chimäre, stürzte aber später vom Rücken des Pegasus und wurde zum Krüppel.
    »Dir fällt keiner ein.« Er richtete sich auf und rückte näher.
    »Ja, ich kenne keinen.«
    »Es gibt auch keinen, denn die da oben lassen niemanden berühmt und glücklich sein.« Er hob eine Augenbraue. »Ich verrate dir ein Geheimnis.«
    »Nur zu.« Es gefiel mir, wenn er heimlich tat.
    »Ich werde der Erste sein.« Er ergriff meine Hand. »Beschwör’s!«
    »Warum sollte ich es beschwören?«
    »Weil du der Grund dafür bist. Na los …«
    »Ich schwöre«, sagte ich und verlor mich in der Farbe seiner Wangen und seinem feurigen Blick.
    »Ich schwöre«, echote er.
    Hand in Hand hockten wir beieinander. Er grinste.
    »Ich habe einen Sterbenshunger.«
    Irgendwo unter uns am Hang erschallte plötzlich ein Horn, abrupt und schmetternd wie zur Warnung. Bevor ich etwas sagen oder mich rühren konnte, war er schon auf den Beinen und hatte seinen Dolch aus der Scheide gezogen. In Wirklichkeit war es nur ein Jagdmesser, aber in seiner Hand würde es allemal reichen. Er stand vollkommen reglos da, lauschte mit all seinen halbgöttlichen Sinnen.
    Auch ich hatte ein Messer bei mir. Ich nahm es leise zur Hand und stand auf. Er hatte sich schützend vor mich gestellt, und ich wusste nicht, ob ich

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