Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
Vom Netzwerk:
zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Es heißt, er sei großgewachsen, aber das wird ja von den meisten Helden behauptet. Du wirst ihm wahrscheinlich eher begegnen als ich und kannst mir hinterher Bericht erstatten.«
    Achill kniff die Brauen zusammen. »Warum sagst du das?«
    Odysseus grinste. »Ich glaube, Diomedes wird mir recht geben: Ich bin ein durchaus tüchtiger Soldat, aber mehr nicht. Meine eigentlichen Talente liegen auf anderen Gebieten. Wenn ich Hektor im Kampf gegenüberstünde, käme ich nicht mit guter Nachricht zurück. In deinem Fall wird es anders verlaufen. Du wirst durch seinen Tod höchsten Ruhm erringen.«
    Ich fröstelte.
    »Mag sein, aber ich sehe keinen Grund, warum ich ihn töten sollte«, entgegnete Achill kühl. »Er hat mir nichts getan.«
    Odysseus lachte leise wie über einen Scherz. »Wenn ein Soldat nur solche Gegner töten würde, mit denen er eine persönliche Rechnung offen hat, gäbe es keine Kriege.« Er zog eine Braue in die Stirn. »Keine schlechte Vorstellung. In einer solchen Welt wäre vielleicht ich der Aristos Achaion .«
    Achill antwortete nicht. Er hatte sich abgewandt und schaute über das Wasser. Von der Sonne angestrahlt, schien seine Wange zu glühen. »Du hast mir noch nichts von Agamemnon erzählt«, sagte er.
    »Ja, unser mächtiger König von Mykene.« Odysseus lehnte sich zurück. »Der stolze Spross des Hauses von Atreus. Sein Urgroßvater Tantalos war ein Sohn des Zeus. Ich bin sicher, ihr kennt seine Geschichte.«
    Jeder wusste um dessen ewige Qualen. Weil er die Macht der Götter verachtete, hatten sie ihn in den tiefsten Abgrund der Unterwelt verbannt, wo er auf ewig Durst und Hunger leiden musste, obwohl Nahrung und Trank stets knapp außerhalb seiner Reichweite waren.
    »Ich habe von ihm gehört«, sagte Achill. »Ich wusste allerdings nie, worin sein Vergehen bestand.«
    »Nun. In den Tagen von König Tantalos waren unsere Königreiche alle gleich groß und die Könige lebten in Frieden. Tantalos aber wollte sich mit seinem Anteil nicht zufriedengeben und nahm Gebiete der Nachbarn mit Gewalt. Er verdoppelte und verdreifachte seine Besitztümer, konnte aber nicht genug bekommen. Seine Erfolge machten ihn stolz, und nachdem er alle Rivalen übertroffen hatte, legte er sich auch noch mit den Göttern an. Nicht mit Waffen wollte er sie schlagen, sondern mit List hintergehen. Er wollte beweisen, dass die Götter entgegen ihrer Behauptung nicht allwissend sind.
    Also rief er seinen Sohn Pelops zu sich und fragte ihn, ob er ihm bei der Zubereitung eines festlichen Mahls helfen wolle. ›Natürlich‹, sagte Pelops, worauf sein Vater lächelnd das Schwert zog und ihm mit einem Hieb die Kehle aufschlitzte. Dann schnitt er dessen Leib in Stücke und briet sie am Spieß über dem Feuer.«
    Mir wurde übel bei dem Gedanken an das aufgespießte Fleisch des toten Jungen.
    »Anschließend wandte sich Tantalos an seinen Vater Zeus im Olymp. ›Ich habe dir und den Deinen zu Ehren ein Festmahl bereitet. Beeilt euch, das Fleisch ist noch frisch und zart.‹ Die Götter liebten es zu speisen und eilten in Tantalos’ Halle. Dort angekommen, rochen sie den Braten, und Zeus ahnte sogleich, was geschehen war. Er ergriff Tantalos bei den Beinen und schleuderte ihn in den Tartaros, damit er dort auf ewig für seine Tat sühnt.«
    Der Himmel war hell, und es wehte ein frischer Wind. Aber im Bann der Geschichte, die Odysseus vortrug, wähnte ich mich an einem Lagerfeuer in tiefer Nacht.
    »Zeus setzte die Stücke des Jungen wieder zusammen und hauchte ihm ein zweites Leben ein. Pelops, obwohl noch jung an Jahren, wurde König von Mykene. Er war ein guter König, fromm und weise, hatte aber als Herrscher eine unglückliche Hand. Es heißt, dass nicht nur Tantalos für seine Tat büßen musste, sondern auch sein ganzes Geschlecht, das immer wieder von Gewalt und Katastrophen heimgesucht wurde. Pelops’ Söhne Atreus und Thyestes kamen mit dem Ehrgeiz ihres Großvaters zur Welt und begingen Verbrechen, die so dunkel und blutig waren wie die des Frevlers. Eine Tochter wurde vom Vater missbraucht, ein Sohn gekocht und gegessen, und das alles geschah in bitterer Rivalität um den Thron.
    Erst mit Agamemnon und Menelaos wendete sich das Los der Familie. Die Tage der Bürgerkriege waren vorüber, und Mykene blühte unter der Herrschaft Agamemnons auf. Sein Ruhm gründet nicht nur auf seiner Kampfkraft, sondern vor allem auf seiner besonnenen Regentschaft. Wir können uns

Weitere Kostenlose Bücher