Das Lied des Achill
glücklich schätzen, ihn als Oberbefehlshaber an der Spitze unseres Heers zu wissen.«
Ich hatte gedacht, dass Achill nicht mehr zuhörte. Doch er drehte sich nun um und legte die Stirn in Falten. »Oberbefehlshaber? Ich bin’s, der meinen Truppen voransteht, und kein anderer.«
»Selbstverständlich«, pflichtete ihm Odysseus bei. »Aber wir kämpfen doch alle für dieselbe Sache, nicht wahr? Zwei Dutzend Generäle auf einem Schlachtfeld würden Chaos und Niederlagen hervorrufen.« Er schmunzelte. »Du weißt doch, wie das ist. Am Ende würden wir uns womöglich gegenseitig umbringen und den Feind verschonen. Ein solcher Krieg kann nur dann erfolgreich geführt werden, wenn alle an einem Strang ziehen, oder anders ausgedrückt: wenn sie die ganze Wucht ihrer Streitkraft in einen einzigen Speer legen, anstatt mit tausend Nadeln zu stechen. Du führst die Männer von Phthia, ich meine aus Ithaka, aber es muss jemanden geben, der unsere Kräfte bündelt.« Und als Kompliment fügte er hinzu: »Auch wenn der eine den anderen weit überragt.«
Achill verzog keine Miene. Sein Gesicht lag im Schatten der untergehenden Sonne. »Ich kämpfe aus freien Stücken und werde Agamemnons Rat annehmen, nicht aber seine Befehle. Damit das klar ist.«
Odysseus schüttelte den Kopf. »Die Götter mögen uns vor uns selbst beschützen. Der Kampf hat noch nicht begonnen und wir streiten schon um die Ehren.«
»Du hast mich nicht verstanden –«
Odysseus winkte mit der Hand ab. »Glaub mir, Agamemnon weiß um deinen großen Wert für seine Sache. Er war der Erste, der den Wunsch geäußert hat, dich zu gewinnen. Du wirst in unserem Heer mit so viel Pomp willkommen geheißen, wie du es dir nur wünschen kannst.«
Achill hatte etwas anderes gemeint. Ich war jedoch froh, als jemand übers Deck rief, dass Land in Sicht sei.
Nach dem Abendessen legte sich Achill aufs Bett. »Was hältst du von den Männern, die wir treffen werden?«
»Ich weiß nicht.«
»Zum Glück ist Diomedes nicht mehr in der Nähe.«
Wir hatten ihn im Norden von Euböa zurückgelassen, wo er auf seine Männer aus Argos warten wollte. »Ja, darüber bin ich auch froh«, entgegnete ich. »Ich traue ihnen nicht.«
»Ich nehme an, wir werden früh genug erfahren, wie sie sind«, sagte er.
Es blieb eine Weile still zwischen uns. Es hatte zu regnen angefangen, und wir hörten erste Tropfen auf die Zeltplane fallen.
»Wenn Odysseus recht hat, zieht in der Nacht ein Unwetter auf.«
Ägäische Stürme brachen urplötzlich aus, legten sich aber auch rasch wieder. Unser Schiff war sicher festgemacht, und am Morgen würde der Himmel wahrscheinlich wieder heiter sein.
Achill sah mich an. »Deine Haare sind wohl nicht zu bändigen.« Er berührte meinen Kopf gleich hinterm Ohr. »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie sehr mir das gefällt?«
Meine Kopfhaut kribbelte unter seinen Fingern. »Nein.«
»Das hätte ich längst tun sollen.« Er fuhr mit der Hand in die Kuhle unter meinem Kehlkopf und erspürte meinen Pulsschlag. »Und wie ist es damit? Habe ich dir schon gesagt, wie ich diese Stelle finde?«
»Nein«, antwortete ich.
Er strich über die Muskeln auf meiner Brust. »Aber dazu werde ich doch wohl schon etwas gesagt haben, oder?«
»Ja.« Ich hielt die Luft an.
»Auch dazu?« Er hatte die Hand auf meine Hüfte gelegt und ließ sie über den Schenkel gleiten. »War davon die Rede?«
»Ja.«
»Und diese Stelle hier werde ich doch bestimmt nicht vergessen haben, oder?« Er schmunzelte. »Sag es.«
»Du hast sie nicht vergessen.«
Seine Hand stand nicht still. »Auch das hier nicht, da bin ich mir sicher.«
Ich schloss die Augen. »Sag es nochmal«, flüsterte ich.
Später liegt Achill neben mir und schläft. Der von Odysseus vorausgesagte Gewittersturm ist gekommen und zerrt mit aller Gewalt an der Leinwand unseres Zelts. Ich höre das Donnern der Brandung am Ufer. Achill rührt sich und mit ihm die Luft, die seinen süßen Duft trägt. Ich denke: Das werde ich missen. Ich denke: Lieber sterbe ich, als das missen zu müssen. Ich denke: Wie viel Zeit bleibt uns noch?
Sechzehntes Kapitel
A m nächsten Tag erreichten wir Phthia. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt gerade überschritten. Achill und ich standen an der Reling.
»Siehst du das?«
»Was?« Er hatte schärfere Augen als ich.
»Die Küste. Sie sieht sonderbar aus.«
Als wir ihr ein Stück näher kamen, erkannte ich, warum. Auf der Landzunge drängte sich das Volk. Und dann war da
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