Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
entwenden. John packte unter Schmerzen zu und zog es ihm durch die Hände. Merten ließ blutend los und rannte zum Ufer. Ein kleiner Nachen lag am Ufer angetäut. Eine Flucht schien möglich. John war ihm dicht auf den Fersen, Merten bückte sich und schlug mit einem Stein nach dessen Kopf. Mit einem Aufstöhnen brach John in die Knie. Verschwommen sah er, wie Merten in den Nachen sprang und das Seil losmachte. Er nahm den Staken auf und beeilte sich, das Gefährt abzustoßen, weiter in den Strom zu gelangen.
»Lasst ihn nicht entkommen!«, keuchte John.
Frieder und Cedric hoben gleichzeitig ihre Bögen. Zwei Pfeile flogen über das Wasser. Einer bohrte sich in Mertens rechte, der andere in die linke Schulter. Er schrie auf und kippte nach vorne. Fiel ins Wasser. Kam noch einmal hoch, schrie in Todesangst.
»So sagte Gislindis es voraus«, hörte John Alyss heiser murmeln.
Der Nachen trieb führerlos in der Strömung davon. Noch einmal sah man strampelnde Beine, dann war Merten verschwunden.
Marian kam zu John und half ihm auf die Beine, Frieder kniete neben Alyss und wischte ihr das kleine Blutrinnsal von der Stirn.
»Das gibt eine Beule, Frau Alyss.«
Sie tastete nach ihrem Kopf und seufzte.
»Der schmerzt, und mein Hals auch«, flüsterte sie.
»Er wird Euch nichts mehr antun, Mistress Alyss«, sagte Cedric und reichte ihr einen wassergetränkten Fetzen Stoff. Sie drückte den an die Stirn und ließ sich dann von den beiden jungen Männern aufhelfen.
»Cedric, nimm Mistress Alyss auf dein Pferd«, sagte John und hielt sich am Zaumzeug seines Tieres fest. Sein Kopf schmerzte zwar, aber langsam fühlte er sich wieder sicher auf den Beinen.
Marian half seiner Schwester auf den Pferderücken, Cedric stieg hinter ihr auf, Frieder half John aufs Pferd, und in langsamem Trab ritten sie schweigend am Ufer entlang.
42. Kapitel
Z wei Wochen waren seit dem Tag der Vergeltung ver gangen, und allmählich hatte Alyss zu ihrem gewohnten Leben zurückgefunden. Das Hauswesen ging seinen Pflichten nach, John und Robert widmeten sich ihren Geschäften, Tilo war von seiner Reise nach London zurückgekehrt und kam oft zu Besuchen vorbei, angeblich natürlich, um sich mit John über den Tuchhandel auszutauschen, allerdings auch, wie Alyss mit Freude feststellte, um ein wenig mit Lauryn zu tändeln. Marian verbrachte einige Zeit im Kontor und mit seinem Vater zusammen, Catrin kümmerte sich darum, das kleine Haus am Heumarkt einzurichten, das sie und Robert bezogen hatten, und Lucien war geläutert aus dem Kloster zurückgekehrt.
Der Junge war so weit geläutert, dass er sich täglich dem stillen Gebet hingab und kein Fleisch mehr aß. So recht traute Alyss dieser Wandlung nicht, aber kurz nach Luciens Rückkehr in die Welt trafen ihre Tante Aziza, Leon und Leocadie ein, und der Wirbel der Hochzeitsvorbereitungen ließ alle Nachdenklichkeiten verstummen. Ritter Arbo von Bachem begrüßte seine schöne Braut, und im Haus derer von Benasis, Anverwandte des Ritters, wurde ein großes Fest gegeben.
»Dein Bruder hat seinen Mut zusammengenommen«, brummelte der Herr vom Spiegel neben Alyss, die zufrieden den jungen Maiden zusah, die sich um ihre schöne Base versammelt hatten.
»Mein Bruder braucht seinen Mut nicht zusammenzunehmen, er hat mehr als genug davon, Herr Vater.«
»Hat er nicht.«
Alyss legte den Kopf schief und sah in das grimmige Gesicht des Allmächtigen.
»Oh, aber er hat geholfen, mich zu befreien, hat gerungen und gekämpft wie ein Mann, Herr Vater.«
»Ein Raufbold, sicher. Aber um sein Herz zu retten, musste er seinen kläglichen Mut zusammensammeln.«
Eine heitere Ahnung streifte Alyss. Gislindis, die ihr zur Freundin geworden war, hatte vor einigen Tagen eine seltsame Bemerkung fallen lassen. Ein wenig verlegen war sie gewesen, als sie davon sprach, eine lange Reise machen zu wollen. Dorthin, wo die Orangen wuchsen und die Zitronen blühten.
»Seinen Mut Euch gegenüber oder der schönen Gislindis?«
»Die Schlyfferstochter scheint ihn endlich erhört zu haben.«
»Und wird ihn auf seiner nächsten Reise begleiten.«
»Und als sein Weib zurückkehren.«
»Es wäre schön, wenn sie hier heiraten könnten.«
»Ja, Tochter, das wäre auch mein Wunsch. Aber selbst ich muss mich den Standesregeln beugen. Wir wollen die Gaffeln nicht vor den Kopf stoßen. Dennoch, Magister Jakob hat bereits den Ehevertrag aufgesetzt und Abt Lodewig ein Schreiben an einen Freund im Kloster Reichenau. Dort wird Marian
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