Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
Fässer, aber Merten hatte ihr versichert, dass der Müller ein guter Kunde sein würde. Müller verdienten nicht schlecht, weshalb sie die Mühe auf sich nahm.
Die Glocken der Kirche kündeten die sechste Stunde, und ein Pärchen Turmfalken kreiste über ihnen.
»Da vorne wird es sein«, meinte Alyss und deutete auf das Mühlengebäude an der Stadtmauer.
Peer grunzte etwas, das sie als Zustimmung wertete, und lenkte das Pferd auf den Pfad zur Mühle. Etwas verwundert bemerkte Alyss, dass die Hofeinfahrt zwar offen stand, aber nicht das übliche geschäftige Treiben herrschte. Sie rollten in den Hof, der seltsam verwaist wirkte. Misstrauisch stieg sie vom Karren, um zum Haus zu gehen, als ein scharfer Schmerz sie durchfuhr.
Sie wollte schreien, aber langsam knickten die Beine unter ihr weg. Sie fiel zu Boden, und Dunkelheit umfing sie.
Dunkel blieb es auch, als sie wieder die Augen öffnete. Der Schmerz in ihrem Kopf dröhnte unerbittlich, und ihr Körper wurde gegen etwas Hartes gestoßen. Mühsam versuchte sie ihre Sinne zu sammeln. Und je mehr sie sich ihrer Lage bewusst wurde, desto größer wurde ihr Entsetzen. Sie war nackt, in ein kratziges Tuch oder einen Sack gehüllt, in ihrem Mund steckte ein Knebel, Hände und Füße waren mit rauen Seilen gefesselt. Offensichtlich lag sie auf der Ladefläche eines Karrens zwischen Kisten oder Fässern.
Jemand hatte sie niedergeschlagen und entführt.
Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, hielt das Fahrzeug, und jemand packte sie wie einen Sack Mehl. Sie wurde über die Schulter eines Mannes geworfen, der sie einige Schritte weit trug. Sie überlegte, ob sie zappeln sollte, doch möglicherweise war es besser, wenn man sie weiterhin für besinnungslos hielt.
Einige Worte wurden gewechselt, der Mann, über dessen Schulter sie hing, sprach mit einem leichten Lispeln, der andere grunzte zustimmend. Dann warf man sie unsanft in einen Nachen, und der Lispler ließ sich neben ihr nieder. Es schaukelte, und Wasser plätscherte. Brachte man sie über den Rhein? Wollte man sie ersäufen?
Luitgard? Wollte man den Tod der Amme auf diese Weise rächen?
Um der Heiligen Jungfrau willen, was hatte man mit ihr vor?
Sie begann zu strampeln und presste einige Laute aus ihrer Kehle.
»Bring sie rüber. Schnell.«
Ruder platschten ins Wasser.
Rüberbringen. Gut. Nicht ersäufen.
Für den Moment war Alyss nur glücklich, dass man sie offenbar am Leben lassen wollte und dass das Geruckel einem sanften Wiegen gewichen war.
Aber die Überquerung des Stromes dauerte nicht lange, die nächste Tortur begann. Sie wurde aus dem Boot gezerrt und über einen Pferderücken geworfen. Hilflos hing sie vor einem Reiter, der sein Tier nicht eben gut unter Kontrolle hatte. Sie betete stumm, dass sie nicht abgeworfen würde. Eine gefühlte Ewigkeit lang verbrachte sie in dieser unangenehmen Haltung, schließlich aber wurde sie wieder über die Schulter eines Mannes gehievt und irgendwo hin geschleppt. Treppen empor, wie es schien. Als er sie diesmal nach unten warf, landete sie auf einem weichen Lager.
Oh nein!
Jemand riss den Sack auf, in den man sie gesteckt hatte, und ließ sie liegen. Sie versuchte einen Blick auf ihren Entführer zu werfen, aber der schlug gerade die Tür hinter sich zu.
Ein prächtiger Raum mit einem großen Kamin, Gobelins an den Wänden, Brokatvorhängen, die von den hohen Pfosten des Bettes fielen, Teppiche auf den Holzdielen, silberne Kandelaber – was sollte das? Wer hatte ihr diesen elenden Streich gespielt? Warum lag sie hier nackt, gefesselt und geknebelt in all diesem Luxus?
Wer hatte ihr in dieser verdammten Mühle aufgelauert?
Ihr Kopf wollte schier platzen, ihr Magen zog sich vor Übelkeit zusammen. Sie schloss die Augen. Hoffentlich würde man sie bald vermissen.
6. Kapitel
M arian betrat den Kai am Rheinufer und streckte sich. Eine lange Reise war beendet. Zwei Handelsknechte warteten schon auf ihn und grüßten ehrerbietig.
»Herr Marian, Ihr mögt eiligst zu dem wohledlen Herrn, Eurem Vater, kommen. Wir nehmen die Ware in Empfang.«
Ein kalter Angsthauch kroch Marian über den Rücken.
»Geht es meinem Vater wohl?«
»Ja, Herr Marian. Er erfreut sich guter Gesundheit. Eilt dennoch. Man erwartet Euch dringend.«
Alle Müdigkeit war vergessen, Marian lief in langen Schritten die Hafengasse entlang, bog in die Lintstraße ein, schenkte Sankt Brigiden und Groß Sankt Martin keinen Blick, sondern pochte kurz darauf heftig an die Tür
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