Das Lied des Kolibris
der Holzplanke lag? Oder hatte man es entdeckt und Imaculada stellvertretend für Luas Anmaßung, eine solche Geschichte niedergeschrieben zu haben, bestraft? Der Gedanke war fürchterlich. Aber noch schlimmer war die Vorstellung, dass die alte Frau vielleicht gar nicht mehr lebte. Sie war ja schon vor Monaten der Überzeugung gewesen, dass sie dem Tode nahe war. Wenn Imaculada nun recht behalten hätte? Wenn sie gestorben wäre, ohne zuvor von ihrem Erfolg erfahren zu haben?
Wenn man Liberdade denn als Erfolg bezeichnen wollte. Lua selbst fand das Experiment gründlich misslungen, aber offensichtlich stand sie allein mit dieser Meinung da. Wahrscheinlich wäre auch Imaculada der Auffassung gewesen, es sei besser, in Freiheit und Elend zu leben, als es in der Sklaverei halbwegs gut zu haben. Und das mochte ja sogar richtig sein, wenn es sich bei der Freiheit denn auch um echte Freiheit handelte. Sich aber ein Leben lang versteckt halten und vor Entdeckung fürchten zu müssen, das war beileibe nicht das, was Lua sich unter Freiheit vorstellte.
Ach, genug der trübsinnigen Gedanken! Lua beschloss, ihre Umgebung ein wenig zu erkunden. Mit ein bisschen Glück fände sie sogar einen Obstbaum, an dessen Früchten sie sich laben konnte – einen Kakaobaum gar! Als Kind hatte sie nichts lieber getan, als das süße, weiße Fruchtfleisch von den Kakaobohnen abzulutschen, und allein die Vorstellung ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie ging in gemächlichem Tempo Richtung Süden und hielt sich immer im Schatten der Bäume. Sie passte auf, dass sie nicht über ein Stück Sand gehen musste, das von der Sonne beschienen wurde. Der Sand brannte nämlich unter den Fußsohlen wie glühende Kohlen. Natürlich hielt sie auch Ausschau nach anderen Menschen, doch niemand schien sich hierher zu verirren.
Nachdem sie eine Weile so gelaufen war, kehrte sie wieder um. Direkt am Strand wuchs nichts anderes als Kokospalmen und struppige Büsche. Vereinzelt hatte sie auch Cajú-Bäume gesehen, aber die Früchte waren noch nicht reif. Sie überlegte, was sie außer Kokosnüssen noch essen konnte. Die vielen Meeresfrüchte würde sie nur in der größten Not ungegart verzehren, und sie zu garen, traute sie sich nicht: Sie beherrschte nicht die Kunst, ein Feuer zu machen, das nicht qualmte. Und eines zu entzünden, das Qualm produzierte, kam nicht in Frage. Damit hätte sie augenblicklich Leute auf den Plan gerufen, die einen vermeintlichen Brand löschen wollten. Auf São Fidélio hatte sie das oft genug miterlebt. Sobald auch nur eine winzige Rauchfahne aus der Vegetation aufstieg, rückte ein Löschtrupp aus, um ein Ausbreiten des Feuers zu verhindern.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als weiter mit Kokosnüssen vorliebzunehmen. Sie entdeckte eine weitere Palme, die schief gewachsen und daher einfach zu erklimmen war, und machte sich ans Werk. Nachdem sie eine Handvoll Nüsse geerntet hatte, öffnete sie sie auf die bewährte Weise und labte sich an ihrem Fruchtfleisch. Dann setzte sie sich in den Sand, lehnte sich mit dem Rücken an einen Stamm und schaute der Sonne dabei zu, wie sie sich quälend langsam bewegte. Obwohl es ja angeblich die Erde sein sollte, die sich bewegte, während die Sonne fix am Firmament stand. Lua konnte das nicht recht glauben. Wären sie dann nicht alle längst von der Erde heruntergepurzelt, wenn sie eine Kugel wäre, die sich permanent drehte?
Nachdem sie eine Weile so dagesessen hatte, zogen kleine Wolken auf. Es war das Spannendste, was in den letzten Stunden passiert war, und erfüllte sie mit freudiger Erregung. Sie starrte in die Wolken, fasziniert von ihren leichten, eleganten Bewegungen und den immer neuen Formen, die sie annahmen. Lua machte hier einen bärtigen Mann aus und da eine Maus, dann wieder eine Phantasieblume und einen kugelförmigen Fisch. Dieses Spiel machte ihr Spaß – bis sie zu ihrem Schrecken bemerkte, dass die Wolken sich immer mehr verdichteten und höher auftürmten. Das sah ganz nach einem Gewitter aus. Und ein solches im Freien mitzuerleben gehörte nicht eben zu Luas Träumen.
Sie hatte schon mehr Tropenstürme miterlebt, als sie zählen konnte. Dennoch war ihre Angst davor nie verschwunden, eher im Gegenteil: Einige Jahre zuvor war ein junger Kuhtreiber von São Fidélio, ein wirklich netter Kerl, vom Blitz getroffen worden und gestorben. Aber was sollte sie hier am Strand schon tun, wenn ein Gewitter über sie hereinbrach? Bäume, das wusste sie, boten
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