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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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mit der Ebbe freigelegt worden waren. Dort suchte sie nach einem Stein, mit dem sie auf die Nuss schlagen konnte. Nach einigem Suchen fand sie dann endlich einen, der ihr geeignet erschien, ein scharfkantiges Ding von der Größe einer Faust. Damit ging sie zurück zu ihren Kokosnüssen und bearbeitete sie so fieberhaft, dass sie kaum merkte, wie ihr der Stein in die Handflächen schnitt. Nach einiger Zeit hatte sie tatsächlich ein kleines Loch in die erste der Nüsse geschlagen. Gierig hielt sie sich die Frucht an die Lippen und ließ das süße Wasser direkt in ihren Mund gluckern. Noch nie hatte ihr etwas so gut geschmeckt.
    Nachdem keine Flüssigkeit mehr in der Nuss war, warf Lua sie mit ganzer Kraft gegen den Baumstamm. Wieder und wieder – bis die Schale schließlich zerbarst und das feuchte, weiß schimmernde Fruchtfleisch darbot. Mit welcher Gier sie sich darüber hermachte! Sie kratzte noch den letzten Krümel heraus, danach begann sie, die zweite Kokosnuss auf dieselbe Art zu bearbeiten. Bei der dritten ging es ihr schon viel leichter von der Hand, und sie war einigermaßen beruhigt. Von Kokoswasser und dem Fruchtfleisch würde man ein paar Tage überleben können. Und an Fischen, Krebsen und Muscheln herrschte ja ohnehin kein Mangel.
    Wenn sie wagemutiger gewesen wäre, hätte sie auch zu den Pflanzungen laufen können. Sie befand sich bereits auf dem Territorium von Três Marias, und die Zuckerrohrfelder konnten nicht weit entfernt sein. Wenn es ihr gelang, mit Hilfe eines Steins oder einer scharfen Muschelschale ein Rohr abzuschneiden, würde sie es auslutschen können. Das war nicht nur nahrhaft, sondern auch köstlich. Aber den Mut brachte sie nicht auf. Nein, wo Felder waren, waren auch Menschen, und auf deren Gesellschaft konnte sie im Augenblick gut verzichten.
    Kaum war ihr Bauch gefüllt, wurde Lua müde. Sie schmiegte sich in ihr Tuch und legte sich in den Schatten der Palme, weit genug von ihr entfernt, dass keine herabfallende Kokosnuss sie treffen konnte. Der Grund war sandig, so dass sie sich durch Hin- und Herrutschen eine Kuhle schaffen konnte, die ihrem Körper genau angepasst war. Dann fielen ihr auch schon die Augen zu.
    Als sie erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Der Palmenschatten lag nun nicht mehr schützend und kühlend über ihr. Es dauerte einen Moment, ehe Lua bewusst wurde, wo und in welcher Situation sie sich befand. Als ihr Kopf endlich klar wurde, sah sie sich nach allen Seiten um, konnte aber nach wie vor niemanden entdecken. Sie prüfte, was ihre Kleider machten. Sie waren bereits getrocknet, waren allerdings vom Salz so starr, dass sie sie erst ein paarmal kräftig ausschütteln musste, bevor sie sie wieder anziehen konnte. Das Nacktsein hatte sich eindeutig besser angefühlt, aber sicherer fühlte Lua sich, wenn sie bekleidet war.
    Und nun? Müßig herumzusitzen war sie nicht gewohnt. Wie oft hatte sie sich einen solchen Moment herbeigewünscht! Jetzt, da sie endlich allein war und um sie herum Ruhe herrschte, mit Ausnahme der Geräusche der Natur, fehlte ihr etwas. Wenn sie wenigstens etwas zu lesen gehabt hätte oder eine Handarbeit! Hier am Strand einfach nur entspannt dösen mochte sie nicht – immerhin war sie eine entlaufene Sklavin.
    Jederzeit drohte ihr eine neuerliche Gefangennahme. Wenn sie jemand entdeckte, bevor die Sinhá Eulália sich dazu durchringen konnte, sie zu beschützen, würde sie schnurstracks an den Pranger wandern. Sie überlegte kurz, ob sie es wagen sollte, sich nach São Fidélio durchzuschlagen, vielleicht wusste Imaculada einen guten Rat. Wie es schien, hatte die Alte mehr Einfluss und Verstand, als man dachte. Die anderen Bewohner des schrecklichen Kleinst-Quilombos Liberdade hatten Imaculada in den höchsten Tönen gelobt und überlegt, wie sie ihr für ihre Hilfe bei der Flucht danken sollten. Bestimmt wäre Imaculada auch froh, wenn sie erfuhr, was aus ihren Schützlingen geworden war. Dann aber entschied Lua sich dafür, vorerst hier am Strand auszuharren. Wenn Eulália ihr helfen wollte, sie aber nicht mehr vorfand, änderte sie ihre Meinung womöglich wieder.
    Dennoch würde Lua früher oder später Verbindung zu Imaculada aufnehmen. Irgendwie fühlte sie sich ihr näher, seit sie am eigenen Leib erlebt hatte, wie es war, der Willkür anderer schutzlos ausgeliefert zu sein. Auch hätte sie gern gewusst, wie die Geschichte der Alten weiterging, die sie seinerzeit so in ihren Bann gezogen hatte. Ob ihr Notizbuch noch unter

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