Das Lied des Kolibris
keinen Schutz. Im Wasser war es auch gefährlich. Eigentlich konnte man sich nur unter einem möglichst niedrigen Baum oder Busch verkriechen und beten, dass das Unwetter so schnell vorüberging, wie es aufgezogen war.
Und genau das tat sie, als sich der Himmel nun bedrohlich dunkel verfärbte. Sie hockte sich unter einen weitverzweigten, dornigen Busch, hängte das Tuch über ihren Kopf, so dass es eine Art Zelt über ihrem zusammengekauerten Körper bildete, und sagte ein Vaterunser nach dem anderen auf. Die Dunkelheit umfing sie schützend, und auch das Wiederholen des Gebets sorgte für eine gewisse Ruhe in ihrem Kopf. Sie hörte die Regentropfen, dann roch sie die metallische Nässe, schließlich hörte sie das Donnergrollen. Aber sie fühlte sich einigermaßen geborgen in ihrem Zelt, und als schließlich das Donnern immer mehr dem Geräusch von Peitschenhieben ähnelte und sie das Zucken der Blitze durch die geschlossenen Augen hindurch wahrnahm, da schaukelte sie wie in Trance vor und zurück und fühlte kaum noch Angst.
Es wirkte. Als der Sturm vorüber war, fand sich Lua noch unversehrt. Die Luft duftete herrlich frisch und war merklich abgekühlt. Hinter den dicken Wolken, die sich nun in einiger Entfernung zusammengeballt hatten, kam ein violett- und türkisfarbener Himmel zum Vorschein, und die untergehende Sonne tauchte das dramatische Wolkenspektakel in ein grandioses Licht. Es war wundervoll!
Weniger wundervoll war, dass sie plötzlich eine Gestalt wahrnahm, die am Strand entlangging und genau auf sie zukam. Aus der Distanz und gegen das Licht des Sonnenuntergangs konnte Lua nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau, ein Schwarzer oder ein Weißer war. Aber es war eindeutig ein Mensch und nicht etwa ein Tier, das sich wegen des Gewitters an den Strand verirrt hatte. Sie verfluchte sich für ihre Sorglosigkeit. Um »ihre« Palme herum lagen, standen oder hingen ihre Sachen, und so wenige es auch waren, so waren es doch genug Dinge, um einem unerwünschten Besucher zu sagen, dass sich hier ein Mensch aufhalten musste.
Sie betete zu allen Heiligen, es möge die Sinhazinha sein, doch im Grunde ihres Herzens glaubte sie selbst nicht daran. Niemals wäre Eulália bei einem Tropensturm vor die Tür gegangen, und dass sie es danach getan haben könnte, dafür war die Zeit zu knapp gewesen. Die Casa Grande von Três Marias musste wenigstens einen halbstündigen Fußmarsch von hier entfernt sein, andernfalls hätte man hier mehr Menschen gesehen.
So schnell sie konnte, raffte Lua ihre Siebensachen zusammen und warf sie ins Unterholz. Sie selbst kroch hinterher und verbarg sich in einem Busch. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie gesehen worden war, war hoch, denn sie hatte ja, bestens beleuchtet, im goldenen Sonnenlicht gestanden. Ihr Herz klopfte rasend schnell, so aufgeregt war sie. Wenn die Sinhazinha es sich nun anders überlegt und ihr jemanden auf den Hals gejagt hatte, der sie zurückbringen sollte? Aber nein, dann wären es sicher mehrere Männer gewesen. Oder handelte es sich nur um einen armen Fischer, der ebenso von dem Gewitter überrascht worden war wie sie? Sie spähte durch die Zweige, hatte jedoch von ihrem Versteck aus keinen guten Blickwinkel. Sie würde die Person erst dann genau erkennen können, wenn sie auf ihrer Höhe angelangt wäre. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, landeinwärts zu rennen und sich in Sicherheit zu bringen, und dem Wunsch, sich nie wieder von hier fortrühren zu müssen. Es war zu merkwürdig. Während ihre Beine förmlich vor Anspannung zitterten, als müssten sie in Kürze den Spurt ihres Lebens bewältigen, war Luas Kopf angesichts der bevorstehenden Kapitulation so leer und leicht wie lange nicht mehr.
Sie blieb. Sie hörte die Schritte der Person, die sich schwerfällig durch den nassen Sand kämpfte. Irgendwann hörte sie das Keuchen. Und dann … hörte sie die Stimme.
»Du sein dumme, dumme Mädchen!«
Lua schrie vor Erleichterung auf, sprang aus ihrem Versteck hervor und warf Imaculada mit ihrer Umarmung fast um.
»Imaculada! Woher wusstest …«
»Kasinda! Mein Name sein Kasinda!«
»Jaja, also Kasinda. Woher wusstest du, dass du mich hier findest?«
Kasinda schüttelte unwirsch den Kopf, als habe Lua ihr genau die falsche Frage gestellt.
»Du sein dumme Mädchen von dumme Senhorita.«
Aha. Also hatte Eulália auf irgendeine Weise dafür gesorgt, dass Ima … Kasinda von ihrem Aufenthaltsort erfuhr. Wie hatte sie das
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