Das Lied des Kolibris
innerhalb der Felsen bildeten, schienen ihr ungefährlich und seicht genug, um ganz hineinzusteigen und unterzutauchen. Und der Strand schien endlos; wenn sich jemand über den Sandstreifen näherte, würde sie ihn aus weiter Entfernung kommen sehen. Sie entkleidete sich vollständig und tappte vorsichtig in das Wasser hinein. Es war göttlich! Eines der Becken war gerade so tief, dass sie sich hineinsetzen konnte und ihr Kopf dabei außerhalb des Wassers blieb. Sie hockte sich hin und genoss das perlende Gefühl auf ihrer schmutzverkrusteten Haut. Dann griff sie in den Sand am Boden des Naturbeckens, nahm eine Handvoll und rubbelte sich damit ab. Diesen Vorgang wiederholte sie so oft, bis sie jede Stelle ihres Körpers gereinigt hatte. Es war ein geradezu berauschendes Gefühl, auch wenn ihre verschiedenen Schürf-, Kratz- und Schnittwunden nun brannten, weil sie den Schorf abgerieben hatte. Es machte ihr nichts aus. Es würde wieder heilen.
Zuletzt tauchte sie ihren Kopf unter Wasser. Sie hielt die Luft so lange an, wie sie konnte, dann kam sie wieder an die Oberfläche, nur um erneut Luft zu holen und unterzutauchen. Ihre Haare waberten im Wasser und verursachten ein Kitzeln auf ihrer Kopfhaut, das sie über die Maßen genoss. Sie blieb so lange im Wasser, bis ihre Zehen und Fingerkuppen schrumpelig wurden, dann erhob sie sich aus ihrem lauwarmen Becken und ging zurück zu der Palme, an deren Stamm sie ihr armseliges Bündel und ihre stinkende Kleidung zurückgelassen hatte. Sie mochte die Sachen nicht anziehen, frisch gebadet, wie sie war. Also nahm sie sie und ging erneut zum Wasser, um sie zu waschen. Besonders sauber wurden die Stücke nicht, aber Staub und Schweiß würde das Meerwasser wohl herausspülen. Danach legte und hängte sie ihre Kleider an eine andere Palme, die von der Sonne beschienen wurde.
All dies tat sie nackt. Es musste das erste Mal in ihrem Leben gewesen sein, dass sie sich für mehr als einen kurzen Augenblick vollständig unbekleidet im Freien aufhielt. Es war ein schönes, ein befreiendes Gefühl. Dennoch wurde sie nie ganz die Furcht los, jemand könne sie aus dem Schatten der Bäume heraus beobachten. Es war höchstwahrscheinlich Unsinn, denn wer sollte sich hier schon aufhalten, in der Hoffnung, dass eine nackte Mulattin sich am Strand herumtrieb? Dennoch suchte sie sich aus ihrem Bündel das Tuch, mit dem sie sich nachts zugedeckt und vor Mücken geschützt hatte, und schlang es um ihren Leib. Es juckte erbärmlich auf ihrer salzverkrusteten Haut.
Sie setzte sich mit angezogenen Knien in den Sand, lehnte sich gegen den Baumstamm und überlegte. Sie würde bald etwas zu essen und zu trinken beschaffen müssen, denn ihre Vorräte waren längst aufgebraucht. Ihr Blick fiel auf die dicken grünen Kokosnüsse, die sich unter der Palmkrone drängten, und das Wasser lief ihr im Munde zusammen. Aber wie sollte sie die Früchte dort herunterholen? Sie stand wieder auf und lief ein Stück den Strand hinunter, auf der Suche nach einer Palme, die schief gewachsen war und einen Aufstieg einfacher machte. Sie entdeckte eine, die bis zur Hälfte fast parallel zum Boden und erst dann in einer sanften Wölbung in die Höhe wuchs. Ja, auf diese Palme würde sie bestimmt klettern können. Sie warf das Tuch, mit dem sie sich bedeckte, zu Boden, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Dann begann sie mit dem Aufstieg, der gar nicht so schwer war. Doch als sie schon in Reichweite der Kokosnüsse gelangt war, wurde es schwierig. Sie hätte vier Hände haben müssen, zwei, um sich festzuhalten, und zwei, um die Nüsse zu ernten. Sie musste einen ziemlich komischen Anblick geboten haben, wie sie da in luftiger Höhe hing und sich verrenkte, um die Früchte vom Baum zu holen, ohne selbst hinunterzufallen. Aber schließlich gelang es ihr, drei große Prachtexemplare zu Boden zu werfen.
Dann kam die nächste Hürde. Wie sollte sie die Kokosnüsse öffnen? Wenn sie sie mit voller Wucht am Baumstamm zerschmetterte, würde das kostbare Kokoswasser, nach dem sie so sehr dürstete, herauslaufen. Und ein geeignetes Werkzeug, um zunächst ein Loch hineinzubohren, hatte sie nicht. Sie hätte schon wieder in Tränen ausbrechen können, weil das schmackhafte Wasser und das Fleisch der Kokosnuss jetzt so nah waren und gleichzeitig unerreichbar schienen. Aber sie nahm sich zusammen – heulen, das hatte sie längst begriffen, nützte rein gar nichts, es war sogar eher hinderlich. Sie ging also wieder zu den Felsen, die
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