0906 - Ein Monster aus der Märchenwelt
Nie hätte sie gedacht, daß sich ihre märchenhaften Träume einmal auf derartig schreckliche Weise erfüllen würden. Was sie in ihrem Zimmer erlebte, wiedersprach jeder Logik, und das hätte ihr auch niemand geglaubt.
Sie wünsche sich so sehr, daß ihre Mutter zurückkehrte, die aber spielte Tennis und würde sich nach dem Spiel sicherlich noch mit Freundinnen verplaudern.
Alice war allein.
Und vor ihr stand Doc Doll!
Seine schwarze Arzttasche hatte er abgestellt und ihr einige Instrumente entnommen. Ein Messer, eine Säge und zuletzt noch ein gefährlich aussehendes Skalpell.
Er lächelte böse. Seine Augen funkelten. Die Lippen bewegten sich.
Dann nickte er.
Alice konnte die Tränen kaum noch unterdrücken. Mit dem Rücken lehnte sie an der Wand. Neben ihr wuchs die schmale Seite des Bücherregals hoch, das einen schwachen Schatten gegen die Gestalt warf.
»Keine kranken Puppen, wie schade, mein Kind. Keine kranken Puppen. Dann muß ich sie krank machen…«
Nein. Alice hatte schreien wollen. Es war ihr nicht möglich gewesen, ihre Stimme versagte, aber ihr Gehirn arbeitete, und die Gedanken liefen Amok. Sie kreisten dabei um ein Thema.
Nicht ihre Lieblinge. Nicht die herrlichen Puppen, die sie in all den Jahren gesammelt hatte. Sie mochte jede von ihnen, ob sie nun aus Stoff, Gummi, Latex oder einem anderen Material bestanden. All die Puppen hatte sie in ihr Herz geschlossen. Wenn jetzt eine von ihnen verletzt wurde, würde es sein, als hätte man sie damit gefoltert.
Das sah der Puppendoktor anders.
Er brauchte eine Aufgabe, und wenn niemand krank war, mußte er jemanden krank machen.
Er kicherte, denn in ihm tobte eine große Vorfreude. Alice hatte die Gestalt noch nie zuvor kichern hören, als sie die Geräusche vernahm, wurde ihr eiskalt.
Er kicherte weiter - und griff zu!
Plötzlich hielt er die erste Puppe zwischen den Fingern. Und diesmal schrie das Mädchen tatsächlich auf, was zur Folge hatte, daß Doc Doll die Kleine anschaute.
»Was ist denn los? Was hast du denn?« quetschte er hervor.
»Nicht diese Puppe. Es war eine meiner ersten…«
Der Puppendoktor lachte laut und starrte die Puppe an. Sie bestand aus einem weichen Stoffkörper, der mit Sägespänen oder einem ähnlichen weichen Material gefüllt war. Die Kleidung der Puppe war gehäkelt worden und lag eng am Körper an. Arme und Beine waren abgespreizt.
In das flache Gesicht waren die Augen, der Mund und auch die Nase hineingemalt worden. Zwar hatten die Farben ihre Kraft verloren, aber man konnte noch immer sehen, daß das Gesicht einen lustigen Ausdruck gehabt hatte.
»Ohhh…« sagte Doc Doll nur, aber es klang nicht bedauernd. Zudem hackte er mit dem Skalpell schräg in das Gesicht der Puppe hinein und brachte ihm einen tiefen Schnitt bei.
Alice kriegte alles mit. Sie sah es überdeutlich, beinahe wie verlangsamt, es hätte sie nicht gewundert, wenn Blut aus der klaffenden Wunde geflossen wäre, aber es löste sich nur ein Strom aus Sägemehl, der wie ein Kometenschweif zu Boden fiel und dort einen kleinen Hügel bildete.
Das Mädchen konnte nicht hinschauen. Es riß die Hände hoch, preßte die Flächen vor sein Gesicht und sank zugleich in die Knie. Mit dem Rücken schabte sie dabei an der Wand entlang. Dann hockte sie auf dem Boden. Ihre Beine waren stark angezogen, die Knie befanden sich in Höhe des Kinns, aber die Hände klebten noch immer vor dem Gesicht.
Irgendwann bewegten sich dann die Finger. Sie bildeten ein Gitter, durch das Alice schaute.
Doc Doll spielte mit ihrer Puppe. Er hielt sie in der linken Hand, der Kopf zeigte nach unten. Zwei Finger umklammerten das Bein der Puppe, und noch immer rann Sägemehl aus der Wunde hervor. Plötzlich hatte er genug und schleuderte sie weg. Sie prallte gegen den Standspiegel und blieb dann vor ihm liegen.
Die Gestalt kicherte. Sie schaute zu Alice. »Hat es dir gefallen?« kreischte der Doc. »Hat es dir gefallen?« Bei jedem Wort nickte er Alice zu, öffnete den Mund und kicherte weiter.
»Nicht mehr - bitte…«
»Ho, ho, kleine Alice, ich fange gerade erst an. Du hast das Buch gern gelesen. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Ich habe es in meiner Welt immer gespürt, und ich nahm mir vor, dich eines Tages zu besuchen. Ja, ich habe schon lange auf ein Mädchen wie dich gewartet, und jetzt geht es mir gut.«
Er ließ Alice in Ruhe und kümmerte sich um die nächste Puppe. Es war ein Geschöpf aus Latex, ein Junge. Er trug eine blaue Jeans, sogar kleine
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