Das Lied des Kolibris
verschwand. Eulália schaute ihm bewundernd nach. »Er ist sehr schön, dein Zé.«
Lua nickte.
»Wenn nur die scheußlichen Narben auf seinem Rücken nicht wären …« Als sei sie sich ihrer unbedachten Äußerung erst jetzt bewusst geworden, fügte sie entschuldigend hinzu: »Damals hat es für uns alle nach einer verdienten Strafe ausgesehen.«
»Ich weiß. Ich mache Euch keinen Vorwurf, und Zé tut dies auch nicht.«
Eulália sah Lua skeptisch an, äußerte sich jedoch nicht weiter dazu. Dann, als sei ihr ganz unvermittelt eingefallen, weshalb sie eigentlich hier war, wurde sie ganz aufgeregt: »Lua, du glaubst nicht, was ich alles erlebt habe!«
»Wartet doch lieber, bis Zé da ist. Ich bin sicher, er würde Eure Geschichte auch gern hören.«
Es war ein wenig riskant, diesen Vorschlag zu unterbreiten. Lua wusste, dass Eulália eine unterschwellige Furcht vor Zé verspürte, so wie sie wusste, dass Zé ihre einstige Herrin verachtete. Aber sie fand, dass sie sich in diesem Fall nicht länger aus dem Weg gehen durften. Es war ihr gemeinsames Schicksal, das Eulália in den Händen hielt, und Zé sollte hören, was sie zu berichten hatte. Lua wusste, dass er ganz in der Nähe war und jedes Wort mitbekam, das gesprochen wurde.
»Ja, du hast gewiss recht«, sagte Eulália, und Lua hörte die Beklommenheit in ihrer Stimme.
Zé ließ nicht lange auf sich warten. Als er sich zu ihnen gesellte und sich mit mürrischer Miene auf den umgestürzten Baumstamm setzte, der ihnen als Bank diente, begrüßte Eulália ihn schüchtern. »Guten Morgen, Zé.«
»Guten Morgen, Dona Eulália«, sagte er.
Lua bemerkte, dass sie angesichts der Anrede ein wenig verunsichert war. Als verheiratete Frau stand ihr das ehrerbietige »Dona« vor dem Namen zu, aber Lua vermutete, dass niemand sie je so angesprochen hatte. Und das »Sinhazinha«, das »Fräuleinchen« vor dem Namen, das hatte sogar Lua sich schon abgewöhnt. Immer mehr betrachtete sie Eulália als Freundin, und wenn sie an sie dachte, war es einfach nur als »Eulália«, ohne jegliche Zusätze. Sie hatte Zé davon erzählt, und er hatte es als ein gutes Zeichen gedeutet. »Das beweist, dass du sie nicht mehr als deine ›Besitzerin‹ ansiehst«, hatte er gemeint, und Lua schätzte, dass er damit genau richtiglag.
»Also«, begann Eulália ein wenig stockend, weil ihr die Gegenwart Zés ganz offensichtlich nicht behagte, »also, es ist so, dass ich für das Gold und die Preziosen nicht genau das erzielt habe, was euch und mir so vorschwebte.«
Zé warf Lua einen ungnädigen Blick aus dem Augenwinkel zu, als wollte er sagen: Siehst du, ich habe es doch gewusst.
Eulália tat so, als habe sie nichts davon bemerkt, und fuhr fort: »Es war nicht ganz einfach. Erst musste ich meiner Schwiegermutter, Dona Filomena, entkommen. Als ich vorgab, zu einer Hutmacherin in Salvador zu wollen, bestand sie darauf, mitzufahren. Ich brachte unzählige Gründe vor, warum dies nicht ginge, aber vergeblich – sie fuhr mit. Aber in Salvador hatte ich eine neue Eingebung. Ich wolle meinen Bruder Carlos besuchen, sagte ich ihr. ›Oh, was für eine nette Idee‹, entgegnete sie und begleitete mich in das Haus meines Bruders. Er wohnt mit seiner Frau Isabelinha in einem sehr feudalen Stadtpalais, das der Brautvater dem Paar zur Verfügung gestellt hat. Ehrlich, Carlos ist ein solcher Glückspilz! Sie haben dort Wände, die mit kunstvollen Azulejos gefliest sind, ganz wie in der Kirche des São Francisco. Und sie haben einige Skulpturen vom Aleijadinho, dem ›Krüppelchen‹, das ist, falls ihr es nicht wisst, ein sehr begabter Bildhauer, ein Mulatte. Ja, ganz recht, sein Vater war Portugiese, seine Mutter eine schwarze Sklavin, und was dieser Kerl mit seiner sonderbaren Krankheit alles so bewerkstelligt, also, in Ouro Preto, wo die großen Goldminen sind, da gilt er als wahres Genie. Ach so, was ich eigentlich erzählen wollte, war ja, wie ich Dona Filomena entwischt bin. Mein Bruder hat sie in ein Gespräch verwickelt, und meine Schwägerin Isabelinha hat – sie hat eine schnelle Auffassungsgabe, das muss man ihr wirklich lassen – die Dame zu einem Spielchen eingeladen. Ha, ist das zu fassen? Isabelinha und Dona Filomena sind also völlig vertieft in ihr Würfelspiel, und Carlos bringt mich zu diesem Pfandleiher.«
Zé wippte ungeduldig mit einem Fuß, und auch Lua fand den Bericht Eulálias reichlich ausschweifend, mochte sie aber nicht drängen.
»Der Pfandleiher sah mich und
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