Das Lied des Kolibris
meinte sie in einer Geschichtsstunde von Sinhá Eulália schon gehört zu haben, als über Alexander den Großen gesprochen wurde. Angeblich waren sie groß wie ein Herrenhaus, hatten einen langen Rüssel, mit dem sie Bäume hochheben konnten, und Ohren so riesig wie Palmblätter. Nun ja, die Leute schmückten ihre Erzählungen ja immer gern aus – wahrscheinlich hatten auch schon die Geschichtsschreiber maßlos übertrieben.
Und man wusste ja auch, wie es bei den Alten war: Sie verklärten alles in ihrer Erinnerung. Alles war früher besser und schöner, wenn man ihnen glaubte, und das mochte insofern sogar stimmen, als es
für sie
schöner gewesen war. Das Leben war für die alten Leute nämlich nicht besonders lustig. Nachdem sie jahrzehntelang geschuftet hatten, oft im Dienst einer einzigen Familie, musterte man sie, wenn ihre Leistungskraft nachließ, manchmal aus wie löchrige alte Schuhe. Man tarnte diese Schäbigkeit als Großzügigkeit: »Was wollt ihr denn, wir schenken euch doch die Freiheit?« Aber was sollten Greise mit der Freiheit noch anfangen, ohne Geld, ohne Lebensmut und ohne Hilfe?
Auf São Fidélio hatten es die Alten noch vergleichsweise gut getroffen. Man gestattete ihnen zu bleiben und versorgte sie mit Lebensmitteln. In der Senzala machten sich manche von ihnen noch bei der Kinderbetreuung nützlich, andere siechten vor sich hin, wurden aber von den Jüngeren mitversorgt. Eines Tages ginge es Letzteren ja genauso, auch wenn ihnen das unvorstellbar erschien, und Respekt vor dem Alter gehörte zu den Grundregeln der Gemeinschaft. Es war nicht immer leicht, dies zu beherzigen. Wenn die Alten unappetitliche Krankheiten hatten, ihre Hosen durchnässten oder sabberten, dann brauchte es schon sehr viel Geduld und Phantasie, um dahinter noch einen Menschen zu erkennen, der einmal jung gewesen war. Manche taten daher rechtzeitig dasselbe, was man von der alten Dona Isabel behauptete: Sie töteten sich selbst.
Mittel und Wege gab es genug. Man konnte sich in die Wellen am Strand stürzen, denn die Strömung war stark und zog jeden, der kein ausgezeichneter Schwimmer war, hinaus aufs offene Meer. Natürlich konnte so gut wie kein Sklave schwimmen. Man konnte sich auch in den Urwald begeben, der an die Fazenda angrenzte, und sich einer
onça pintada
, einem Jaguar, zum Fraße vorwerfen. Wenn man in dichtes Unterholz vordrang und ein Weibchen mit seinen Jungen aufstöberte, war die Wahrscheinlichkeit gar nicht mal so gering, dass die Jaguardame Appetit an einem fand, was sie üblicherweise nicht tat. Dann konnte man natürlich noch traditionellere, aber nicht immer sichere Wege wählen: Das Aufschneiden der Pulsadern oder das Herabstürzen aus einem hohen Baum barg immer die Gefahr, dass man überlebte. Und schließlich konnte man sich das Leben auch auf besonders spektakuläre Weise nehmen, um damit auf seine Lage aufmerksam zu machen. Ein alter Mann hatte vor Jahren auf São Fidélio mit seinem Selbstmord für Furore gesorgt, als er einen Bienenkorb in Brand setzte und von den aufgebrachten Bienen attackiert wurde.
Der Brand – immer wieder kehrten Luas Gedanken zu ihm zurück. Was hatten sich Zé und seine Kumpane eigentlich dabei gedacht, als sie die Scheune anzündeten? Wollten sie das Feuer und die Aufregung nutzen, um fliehen zu können? Warum hatten sie es dann nicht getan? Sobald Zé wieder einigermaßen zusammenhängend sprechen konnte – denn seine Äußerungen Dona Ines gegenüber waren nur ein kurzes Aufbäumen im Fieberwahn gewesen –, würde Lua ihn dazu befragen.
Es vergingen einige Tage, in denen alle Sklaven höchst angespannt waren, weil sie jeden Augenblick mit einer Strafe von Dona Ines rechneten. Aber nichts geschah. Würde man ihnen die Pflege von Zé durchgehen lassen? Oder überlegten die Senhores noch, welche Bestrafung in einem so schweren Fall von Heimlichtuerei angebracht wäre? Eine Standpauke von Dom Felipe oder ein Wutanfall von Dona Ines wäre allen tausendmal lieber gewesen als dieses unnatürliche, beängstigende Schweigen. Und sie konnten es ja nicht einfach unter den Teppich kehren, denn irgendwann wäre Zé vielleicht wieder vollständig genesen, so dass man spätestens dann schauen musste, wie mit ihm und seinen Rettern zu verfahren sei.
Vorübergehend wurde Lua jedoch von dieser Sorge abgelenkt. Die Sinhá Eulália wollte Rui Alberto auf der Nachbarfazenda besuchen, um die Einzelheiten der Verlobungsfeier zu besprechen, und Lua sollte sie dorthin
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