Das Lied des Kolibris
Kutsche zu entdecken. Sie sagte, wenn du fliehen wolltest, könntest du jeden Centavo gut gebrauchen und würdest deshalb die Münze einstecken. Sie sagte auch, wenn sie sich täuschte und du ehrlich bliebest, indem du mir deinen Fund gibst, dann könne man wohl davon ausgehen, dass du keine von denen bist. Ich hatte es ihr gesagt, Lua, ich habe immer an deine Unschuld geglaubt!«
Lua war sprachlos. Wie hatte ihr diese kleine Verschwörung in der Casa Grande entgehen können? Wann hatten die Oliveiras sich diesen Plan überlegt? Und wie hatte sie nicht bemerken können, dass man sogar sie verdächtigte? Ausgerechnet sie, die nun wirklich alles andere als rebellisch war? Ihr traten Tränen in die Augen, ihre Nase begann zu laufen.
»Hier«, sagte Eulália und reichte ihr ein hauchzartes Tüchlein, das Lua selbst vor nicht allzu langer Zeit für sie bestickt hatte. Ihre Stimme zitterte, was Lua wiederum zu noch mehr Tränen rührte.
»Ich liebe São Fidélio, das müsst Ihr doch wissen. Es ist mein Zuhause, genauso wie es das Eure ist. Warum sollte ich fortwollen? Mir ist es immer gut ergangen«, schluchzte Lua. »Warum glaubt Eure Frau Mutter so hässliche Dinge von mir?«
»Lua, beruhige dich doch. Ich weiß, ich weiß, alles, was du sagst, weiß ich doch längst. Es ist wegen dieses Aufrührers. Er hat Unfrieden nach São Fidélio gebracht, er macht alle nervös und stiftet sie zu Dingen an, die sie sonst niemals tun würden. So wie es bei dir ja auch war.«
»Nein!«, rief Lua aus. »Es war doch nur meine Christenpflicht, dem Mann zu helfen. Ich meine, er lebte noch. Soll man ihn da einfach in ein Grab werfen? Das geht doch nicht!«
»Natürlich nicht. Aber ihr Sklaven hättet uns ja mal eine Silbe sagen können. Warum habt ihr uns nicht erzählt, dass ihr ihn in der Senzala gesund pflegt?«
»Ich weiß nicht, es, es …«, stammelte Lua. »Es war so … es kam uns falsch vor. Wir dachten, wenn Gott an ihm ein Wunder vollbringt und ihn überleben lässt, dann können wir ihn doch nicht zu einer weiteren Strafe verurteilen. Denn so wäre es doch gewesen, nicht wahr? Euer Vater hätte den tödlich verwundeten Mann in den Kerker werfen lassen, wo er ohne unsere Hilfe zweifellos gestorben wäre.«
»Hm, wahrscheinlich schon, ja«, gab die Sinhazinha zu. »Aber mein Vater ist ja auch der Senhor von São Fidélio, und ich bin die Besitzerin dieses heimtückischen Sklaven. Es oblag also uns und nur uns, zu entscheiden, wie mit ihm zu verfahren sei. Ihr wart sehr anmaßend.«
»Es tut mir leid«, sagte Lua leise. »Ihr habt recht, Sinhazinha. Es tut mir unendlich leid, und ich verspreche, dass so etwas nie wieder vorkommen wird.«
»Ich weiß, Lua. Dass du mir die Goldmünze gegeben hast, beweist ja nur allzu deutlich, was für eine ehrliche Haut du bist. Jetzt müssen wir nur noch meine Mutter von deiner Unschuld überzeugen. Sie hält dich für durchtriebener, als du es bist. Ich kenne dich von uns allen sicher am besten, und ich habe ihr immer wieder versichert, dass du ein ganz gewöhnliches, einfältiges Sklavenmädchen bist.«
Lua war erschüttert. Was wusste Dona Ines von ihr? Wusste sie, dass sie lesen und schreiben konnte? Ahnte die Senhora, dass sie sich in ihre Bibliothek schlich? Hatte sie womöglich sogar den Verdacht, dass Lua es war, die den Gefangenen im Keller Proviant gebracht hatte? Hatte sie mitbekommen, dass Lua Imaculadas Lebensgeschichte aufschrieb? Du liebe Güte, wenn das alles herauskam, würde Lua selber mit 50 Peitschenhieben rechnen müssen! Andererseits war sie nie aufsässig gewesen, hatte nie Fluchtpläne geschmiedet, war immer höflich und nett gewesen, war gefällig anzusehen und erledigte alle ihre Pflichten gewissenhaft. Was wollten sie mehr von einer Haussklavin? Lua war ihrer Herrschaft treu ergeben und wäre noch viele Jahre lang unentbehrlich auf São Fidélio. Eines Tages würde sie vielleicht Kinder bekommen, und irgendwann, in vielen Jahren, wäre sie eine hochangesehene ältere Frau, die von den Jüngeren respektvoll
tia
Lua, Tante Lua, genannt und in wichtigen Angelegenheiten um Rat gefragt wurde. Man würde ihr vielleicht sogar eine eigene kleine Kammer zuweisen, in der sie mit ihren Kindern leben würde, und die jungen Mädchen in der Senzala würden sie sich zum Vorbild nehmen und ihr nacheifern.
So sahen Luas bescheidene Zukunftsträume aus. Ein Mann war darin bislang nicht vorgekommen. Sie verdrängte den störenden Gedanken, dass ihr Zé tatsächlich mehr
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