Das Lied des Kolibris
hatte ich diese Art von Schlange niemals zuvor gesehen, dennoch fürchtete ich mich nicht. Auch die giftigste Natter ist nur ein Tier und als solches dem Menschen immer unterlegen.
Ich nahm also einen Stein, an denen der Acker sehr reich war, und ging behutsam auf die verängstigte Schlange zu, um sie zu keinem Angriff zu reizen. Und dann schlug ich blitzschnell zu, schneller noch, als meine Nachbarin, die mir wegen der Kette ein paar Schritte weit folgen musste, schreien oder als der Aufseher eingreifen konnte. Und schon lag die »Bestie« schlaff auf der aufgeworfenen Erde. Ich war weder besonders stolz auf meine Tat, noch schämte ich mich für mein eigenmächtiges Eingreifen. Ich hatte nur getan, was getan werden musste. Gern hätte ich der Schlange an Ort und Stelle das Gift abgezapft, doch dafür fehlten mir sowohl die Mittel als auch die Zeit. Denn schon näherte sich der Aufseher und höhnte etwas, das ich mir folgendermaßen zusammenreimte: »So, eine
jararaca
hast du erlegt, du kleine Wilde!«
Ich ließ den Stein fallen, hob die Schlange auf, um sie mir später zu braten, und ging wieder zurück zu der Maniokpflanze, an der ich vor dem Vorfall herumgezerrt hatte, um ihre Wurzeln ans Tageslicht zu befördern.
»Halt, stehen bleiben!«, fuhr der Mann mich an.
Der Ton war unmissverständlich, deshalb blieb ich stehen.
»Du afrikanisches Luder! Du wolltest mich vor den anderen Negerinnen schwach aussehen lassen, ja? Das wirst du nie wieder tun. Ihr erntet, und sonst nichts. Und wenn du noch einmal einen Stein aufhebst, um ihn als Waffe zu benutzen, setzt es zehn Peitschenhiebe!« Um seiner Drohung mehr Wirkung zu verleihen, ließ er seine Reitgerte auf meine Schultern niedersausen.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Was wollte der Kerl von mir? Was hatte ich falsch gemacht? In was für einer verkehrten Welt war ich hier gelandet?
»Und diese verfluchte Schlange, hä? Was hast du damit vor? Willst du damit Hexenzauber treiben? So etwas dulden wir hier nicht. Gib sie her!« Er deutete mit seiner Reitgerte auf die Schlange, so dass ich dachte, ich solle diese fallen lassen. Ich tat, wie mir geheißen, doch der Kerl geriet jetzt erst richtig in Rage.
»Du schmeißt sie vor mir in den Staub, du afrikanisches Miststück? Na warte, dich werde ich Demut lehren.« Er löste meine Fußfesseln von der Kette, nur um mir anschließend die Hände zu fesseln. »So, du kommst mit mir mit.« Dann wandte er sich an die anderen. »Was gibt es da zu glotzen. Macht weiter. Wegen dieses Vorfalls arbeitet ihr alle heute eine halbe Stunde länger.«
Dann trieb er mich vor seinem Gaul her. Ich lief und hörte das Pferd hinter mir schnauben. Der Mann stieß unverständliche Worte des Zorns aus und trieb mich zu einem höheren Tempo an. Irgendwann gelangten wir zu einer Art Unterstand. Dort hielten wir an. Der Mann schnitt die Kordel entzwei, die aus meinem sackartigen Überwurf ein Kleid machte, und riss mir den Stoff mit einem Ruck vom Leib, so dass ich völlig nackt vor ihm stand. Er keuchte und verströmte einen strengen Geruch. Mir wurde fast übel bei dem Gedanken, was er nun mit mir tun würde, als wir plötzlich Geraschel und Getrappel hörten.
»João Gordo, bist du das da drin?«, rief jemand.
Der Aufseher stöhnte enttäuscht auf. Er zog seine Hose, die er bereits bis zu den Kniekehlen herabgelassen hatte, wieder hoch und gab mir meinen zerrissenen Leinenkittel zurück. Ich wickelte mich so in den Stoff, dass man nicht auf Anhieb erkannte, was mir widerfahren – oder besser: beinahe widerfahren – war. Trotzdem fühlte ich mich geschändet.
Ich wusste nicht, was der andere Mann mit João Gordo zu bereden hatte, jedenfalls wurde ich recht schnell wieder zurück zu meinem Arbeitstrupp gebracht und an der Kette befestigt. Kurz vor Sonnenuntergang gingen wir zurück in unser Gefängnis.
Am nächsten Tag erklärte mir Samba, dass sie mich dazu auserwählt habe, ein weniger scheußliches Schicksal zu ertragen als die anderen weiblichen Neuankömmlinge. Diese würden, so sagte sie, von den mächtigen Männern der Fazenda, den weißen wie den schwarzen, »zugeritten«, um ihren Willen zu brechen und sie zu gefügigen Sklavinnen zu machen. Ein durchaus erwünschter Nebeneffekt dabei seien Schwangerschaften, denn je mehr Sklaven ein Senhor besaß, als desto mächtiger galt er.
»Du bist etwas Besonderes, Imaculada«, flüsterte sie mir in unserer gemeinsamen Muttersprache zu. »Du sollst diese unerträgliche
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