Das Lied des Kolibris
begleiten. Es passierte nicht oft, dass sie São Fidélio verließ, so dass sie sich sehr über diese Gelegenheit freute, einmal etwas anderes zu sehen als die immer selben Gesichter und Räume, Tiere und Bäume. Lua kannte ja wirklich fast jeden einzelnen Grashalm auf der Fazenda! Es wurde höchste Zeit, dass sie mal wieder herauskam. Auch die anderen Sklaven freuten sich, denn bei ihrer Rückkehr würde Lua allerlei zu berichten haben, und auf Klatsch waren alle immer sehr erpicht.
Es war noch sehr früh am Morgen, als die Sinhazinha und Lua die offene Kutsche bestiegen, in der sie der Kutscher Luizinho nach Três Marias bringen würde. Die Sonne war eben erst aufgegangen, und noch war die Hitze erträglich. Kurz zuvor hatte es einen starken Schauer gegeben, das Getrommel der Regentropfen auf dem Blattwerk der Bäume und den Ziegeln des Dachs hatte sie alle geweckt. Die Luft roch frisch und würzig, aber auf den Wegen standen Pfützen. Für die Fahrt wäre das ein wenig lästig, allerdings kein großes Hindernis: In Kürze würde die Sonne alles stehende Wasser verdampfen lassen.
Lua hatte sich besonders viel Mühe mit ihrer Garderobe und ihrem Äußeren gegeben. Sie trug zwar nur ein einfaches blaues Baumwollkleid, doch darüber hatte sie eine neue, strahlend weiße Schürze gebunden, die sie noch am Vorabend mit ein paar sehr hübschen Stickereien versehen hatte. Ihr Haar war zu einem Knoten aufgesteckt, der am Hinterkopf aus einem raffiniert und mehrfach um den Kopf gewickelten Tuch herauslugte. Dieser Turban war ebenfalls neu und blendend weiß, so dass er ihr Gesicht vorteilhaft umrahmte. An den Ohren trug sie große Kreolen aus Holz, um den Hals mehrere Ketten aus leuchtend bunten Glasperlen.
»Willst du allen Burschen auf Três Marias den Kopf verdrehen?«, fragte Sinhá Eulália scherzhaft. Lua sah ihr an, dass sie mit ihrem Aussehen zufrieden war. Hübsche, adrette Sklavinnen warfen auch auf ihre Besitzer ein besseres Licht als ungepflegte Dienstboten. Im Übrigen war sie selbst aufs Feinste herausgeputzt, denn für sie war diese Fahrt ja eine ebenso nette Abwechslung vom täglichen Einerlei wie für Lua.
Als sie in der Kutsche saßen, betrachteten sie beide stirnrunzelnd die Säume ihrer Kleider.
»Dass es ausgerechnet heute früh so viel regnen musste!«, beschwerte sich die Sinhazinha. »Jetzt ist all unsere Mühe umsonst gewesen.«
»Ach was«, beschwichtigte Lua sie, »das trocknet ganz schnell wieder, und dann bürste ich die Kleider aus, bevor wir ankommen.«
»Und dieser feuchte Dampf, der von der Erde aufsteigt! Da kringeln sich meine Haare, und die schöne Frisur sieht gar nicht mehr gut aus.«
Darauf wusste Lua nicht viel zu sagen. Wenn die Weißen sich über ihr vermeintlich krauses Haar beschwerten, klang das für Schwarze geradezu lächerlich. Luas Meinung nach hatte die Sinhá Eulália immer glattes Haar, ganz gleich ob die Luft feucht oder trocken war.
»Und in meinem Dekolleté sammeln sich schon wieder die ersten Schweißtröpfchen!«, fuhr sie mit ihrem Gejammer fort. »Ach, was gäbe ich darum, in einem zivilisierten Land zu leben, in dem es schön kalt ist, in dem die Damen Pelzstolen und Samthandschuhe tragen können und einen Haufen an schmückenden Accessoires, ohne immerzu befürchten zu müssen, einen Hitzschlag zu erleiden!«
»Ja, das stelle ich mir auch schön vor«, gab Lua zu. »Aber der französische Herr, der vor zwei Jahren bei uns weilte …«
»Monsieur Laroche«, ergänzte Eulália.
»Genau, Monsieur Laroche, also der hat ja nur Schlimmes vom Winter in Europa berichtet. Stellt Euch nur vor, wie furchtbar das sein muss, wenn man ständig friert, wenn es keine frischen Früchte zu essen gibt und man tagaus, tagein ein Feuer schüren muss, um es wohlig warm zu haben.«
»Ich fände es himmlisch!«, schwärmte Eulália. »Es hat so etwas Kultiviertes, an einem Kaminfeuer zu sitzen, einen Brandy zu genießen und draußen einen Schneesturm toben zu wissen. Ich glaube, der gute Monsieur Laroche wollte sich nur wichtigmachen, indem er die unangenehmeren Seiten des Winters übertrieben schlecht darstellte. Ach, Lua, stell dir doch nur vor, wie herrlich es wäre, einmal echten Schnee zu sehen, zu fühlen und zu kosten!«
»Zu kosten? Ihr wollt ihn essen?«, fragte Lua entgeistert.
»Aber ja doch. Es ist doch nur gefrorenes Wasser. Er schmeckt bestimmt wunderbar, so rein …« Sie ließ ihren Blick über das Meer schweifen, das in einiger Ferne zwischen den Palmen
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