Das Lied des Kolibris
ihm hingab, wäre sie auch dazu bereit. Ihre Jungfräulichkeit wurde langsam zu einem lästigen Hindernis. Sie, die doch sonst über so viel mehr Wissen und Bildung verfügte als die meisten anderen Sklaven, wusste über dieses wichtige Thema nicht mehr als ein kleines Mädchen. Das ging so nicht weiter.
Es gelang Lua, den arbeitsreichen Tag zu überstehen, ohne ihre Aufregung zu verraten, indem sie etwa einen Teller zerbrach oder eine Vase fallen ließ. Es gelang ihr ebenfalls, sich abends in der Senzala noch ein wenig hübsch zu machen, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Sie zog frische Kleidung an, kämmte ihr Haar und besprenkelte ihr Dekolleté mit ein wenig Kölnisch Wasser – für Lua der Inbegriff feiner Lebensart –, das ihr vor Monaten die Senhora geschenkt hatte, weil der Flakon eine Kerbe hatte und ohnehin nur noch zu einem Viertel gefüllt war.
Die meisten anderen Sklaven hatten sich um eine Alte geschart, die Schoten aus ihrer Jugend zum Besten gab, reich gespickt mit schaurigen Anekdoten von Boas, Jaguaren und Krokodilen. Alle waren so gefesselt von den Erzählungen, dass keiner Luas Weggehen bemerkte.
Sie huschte vorsichtig über den Hof, warf dem Wachhund ein Stückchen Speck zu, das sie vorher wohlweislich aus ihrem Eintopf gefischt hatte, und kam unbehelligt bis zum Flamboyant-Baum. Auf dem Gutshof und in dessen unmittelbarer Umgebung konnte man sich einigermaßen frei bewegen. Erst wenn man in die Nähe der Grundstücksgrenzen kam, wurde es brenzlig, denn dort patrouillierten regelmäßig Wachen mit abgerichteten Hunden. Wer es dennoch schaffte, diese Hürde zu überwinden, der fand sich entweder am offenen Meer oder in undurchdringlichem Urwald wieder – beide voller Gefahren für das menschliche Leben. Oder er lief geradewegs auf das Gebiet der Nachbarfazenda, wo die Bewachung sehr viel schärfer war als auf São Fidélio. Die Chancen, unbeschadet zu entkommen, waren verschwindend gering, die Strafen dagegen streng. Also versuchten es erst gar nicht viele. Die Fälle von Flüchtigen, die man sofort wieder eingefangen und hart bestraft hatte, waren sehr viel zahlreicher als die der erfolgreichen Ausreißer. Dennoch gab es sie, und man erzählte sich hinter vorgehaltener Hand abenteuerliche Geschichten über deren Geschicke in der Freiheit.
Zé stand lässig an den Baum gelehnt und beobachtete Lua. Sofort fühlte sie wieder diese beunruhigenden Selbstzweifel. Sah sie gut aus? Bewegte sie sich graziös genug? Merkte man ihr ihre Nervosität an? Keine Sekunde fragte sie sich, ob umgekehrt er gut genug aussähe.
Sie blieb eine Armlänge von ihm entfernt stehen. »Olá«, begrüßte sie ihn.
»Du hast das gar nicht nötig, das Duftwasser der Weißen zu benutzen«, sagte er statt einer Begrüßung. »Die Weißen stinken, sie brauchen das. Wir nicht. Außerdem merken so die Tiere des Waldes schon von weitem, dass man sich nähert.«
Lua verdrehte die Augen. Das begann ja wirklich toll. Ihre übelsten Vorahnungen bestätigten sich: Er würde ihr Vorträge über die Freiheit und über die Überlegenheit der afrikanischen Völker halten.
»Ich bin froh, wenn die Tiere frühzeitig merken, dass ich mich nähere. Dann können sie die Flucht ergreifen.«
Zé lachte leise in sich hinein.
»Im Übrigen habe ich nicht vor, mich in den Wald zu begeben, schon gar nicht in der Dunkelheit. Und hier auf São Fidélio können die Hühner, Ziegen, Pferde, Kühe, Schweine, Hunde, Katzen, Mäuse, Ratten, Vögel und Insekten sich ja gern über meinen Geruch beschweren.« Sie redete sich in Rage. Sie fand es unerhört, dass Zé sie mit beleidigenden Worten empfing. »Ich denke, es war keine gute Idee hierherzukommen.« Damit drehte sie sich um und stapfte davon. Mit Mühe musste sie die Tränen zurückhalten.
Zé lief ihr nach und hielt sie am Arm fest. »Es tut mir leid, Lua. Ich wollte dich nicht kränken. Du siehst wunderhübsch aus … vor allem, wenn du so wütend bist. Bitte bleib noch ein wenig.«
Sie löste ihren Arm aus seiner Umklammerung. »Weißt du was, Zé? So attraktiv und charmant kannst du gar nicht sein, dass ich mich dafür mit dir einlassen würde. Du bist ungehobelt und dreist. Du hältst dich für etwas Besseres, als adelten dich deine afrikanische Abstammung und dein Streben nach Freiheit. Aber was ist daran schon so Besonderes? Von Freiheit träumen viele, und afrikanische Ahnen haben wir alle.«
»Ach?« Es war keine Frage, eher eine triumphierende Bestätigung, als habe er
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