Das Lied des Kolibris
Brise, die zwar aufgrund der großen Hitze nicht sonderlich erfrischend war, die aber die Palmen und Obstbäume zum Rascheln brachte, während der Mond zauberhafte Muster auf die glänzenden, sich im Wind wiegenden Blätter zeichnete. Die schweren, süßen Düfte von Nachtjasmin und Engelstrompeten vermischten sich mit dem Aroma der feuchten Erde, ein betörendes und sinnliches Geruchserlebnis. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.
Sie war so erschöpft, dass sie wohl an Ort und Stelle eingenickt wäre, wenn sie nicht plötzlich ein Kitzeln am Ohr gespürt hätte. Sie schrak auf und wollte schon mit der Hand nach dem Insekt oder der Spinne schlagen, als ihre Hand abgefangen wurde.
»Keine Angst, Lua.«
Es war Zé. Lautlos hatte er sich an sie herangeschlichen, und zwar so nah, dass sie trotz der Dunkelheit die einzelnen Schweißperlchen auf seiner Oberlippe hätte zählen können.
»Es ist schwer, dich allein anzutreffen«, flüsterte er.
»Ich muss auch gleich wieder reingehen.« Lua schämte sich augenblicklich für ihre dumme Antwort. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass sie sich für alles, was sie tat, sagte oder sogar dachte, genierte? Sie war sonst kein sehr schüchterner Mensch, und auch als besonders gehemmt konnte man sie eigentlich nicht bezeichnen.
»Warte noch einen Moment, bitte.« Zé hielt weiterhin ihre Hand, über deren Innenfläche er nun mit seinem Daumen strich. Es war eine sanfte Berührung, obwohl seine Hand riesig und voller Schwielen war. »Ich möchte mich bei dir bedanken.«
»Wofür?«, rutschte es ihr heraus, und abermals schämte sie sich für die blöde Frage. Er schuldete ihr in der Tat Dank, sowohl für die Pflege, die sie ihm hatten angedeihen lassen, als auch dafür, dass sie zuvor Lebensmittel in den Keller gebracht hatte. Sie zuckte mit den Achseln und fuhr fort zu sprechen, bevor er ihr antworten konnte. »Ach, ist ja auch egal. Du schuldest mir nichts. Immerhin habt ihr mich ja auch nicht verpfiffen, nachdem ich euch im Keller besucht habe.«
Lua erwartete, dass er seine eigene Leistung mit irgendeiner Geste als geringfügig abtat oder dass er ihr erklärte, was sich damals unter den vier Gefangenen zugetragen hatte. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen sah Zé sie durchdringend an und schwieg. Sein Blick war schwer zu deuten. Sie vermeinte Zuneigung darin zu erkennen, aber es hätte genauso gut gelangweilte Höflichkeit sein können, was sie erneut aus dem Gleichgewicht brachte. Also plapperte sie weiter, wohl wissend, dass sie ihre Nervosität damit nicht tarnte, sondern sie im Gegenteil verriet.
»Na ja, ich habe mich schon ein wenig gewundert, dass von vier Männern keiner geredet hat. Ich meine, dich haben die anderen ja anscheinend auch verraten, oder nicht? Du hast uns ja nicht eine Silbe über das erzählt, was in eurer Gefangenschaft vorgefallen ist, also haben wir es uns selber zusammengereimt. Aber weißt du, seitdem stehe ich unter ständiger Beobachtung unserer Herrschaft, und es wäre nicht so gut, wenn ich mit dir zusammen gesehen werde, deshalb …« Damit wollte sie sich erheben, um wieder ins Haus zu gehen. Doch Zé hielt sie an der Hand fest und zog sie wieder auf die Stufe hinab, auf der er ebenfalls Platz genommen hatte. Er schwieg nach wie vor, aber plötzlich umfasste er ihre Wangen mit beiden Händen, sah ihr tief in die Augen und zog ihr Gesicht zu seinem heran.
Lua hielt die Luft an. Würde er sie nun küssen? Sie schloss die Augen und bot ihm ihre halb geöffneten Lippen dar, aber er hauchte nur einen Kuss auf ihre Mundwinkel. »Du bist sehr schön, Lua«, flüsterte er. »Und sehr mutig. Triff mich morgen Abend am Flamboyant-Baum.«
Bevor sie zu einer ablehnenden Antwort auch nur ansetzen konnte, war Zé bereits in der Dunkelheit verschwunden. Zeit, das Geschehene überdenken zu können, blieb ihr keine. Von drinnen hörte sie die sich überschlagende Stimme der Sinhazinha, die offenbar auf der Suche nach ihr war. Wahrscheinlich fand sie in ihrem angetrunkenen Zustand den Weg in ihr Zimmer nicht mehr.
Der nächste Tag war ganz mit Aufräumarbeiten ausgefüllt. Lua war fahrig und in Gedanken weit weg, aber diesmal fiel es niemandem auf. Sowohl für die Oliveiras und ihre Übernachtungsgäste als auch für die Sklaven gab es nur ein einziges Gesprächsthema, nämlich das gelungene Fest. Die Weißen äußerten sich lobend über die afrikanische Aufmachung von Personal, Kapelle und Tänzern – »Man sollte die Neger
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