Das Lied des Kolibris
freundlicher und friedlicher aussahen als die meisten menschlichen Antlitze, in die er in den vergangenen Jahren geschaut hatte. Auf riesenhaften Spinnennetzen funkelten im Morgengrauen die Tautropfen, ein schönerer Lichtzauber, als die Sonne ihn durch die bunten Fenster der Kapelle erzeugte. Ganz selten nur erhaschte Mbómbo einen Blick auf ein größeres Säugetier oder eine Beutelratte – die Tiere fürchteten sich mehr vor ihm als er sich vor ihnen. Von den berühmt-berüchtigten Jaguaren hatte er noch nichts gesehen, einzig ein großer Kothaufen, der von keinem kleineren Tier stammen konnte, erinnerte ihn daran, dass er in seiner Wachsamkeit keinen Augenblick nachlassen durfte.
Mbómbo ernährte sich tagelang von blauen Krebsen, die sich in einem Bach tummelten und für ihn mit seiner Unerfahrenheit leicht zu fangen waren. Nachts entzündete er sein kleines Feuer – was aufgrund des immer feuchten Holzes nicht einfach war – und grillte die Krebse darin. Sie schmeckten delikat, doch mangelte es ihnen zur vollen Bildung des Aromas an Salz. Daran hatte er nicht gedacht. An der Küste war Salz keine Mangelware gewesen und wurde von niemandem als sonderlich kostbar erachtet. Hier dagegen würde er sich an salzarme Kost gewöhnen müssen. Oder sich so weit mit den Indios anfreunden, dass sie ihm ihre Rezepte verrieten – sicher kochten sie aus den verfügbaren Pflanzen und dem Fleisch der jagdbaren Tiere ein schmackhaftes Essen, oder? Wenn er allerdings an die gerösteten Heuschrecken dachte, von denen Kasinda ihm vorgeschwärmt hatte …
Mbómbo war immer weitergewandert, ohne sich um seine wunden Füße oder die vielen Mückenstiche zu kümmern. Am besten, man ignorierte sie einfach. Er hatte nicht gewusst, wann er sein Ziel erreichen und woran er es erkennen würde, aber er hatte keinen Zweifel daran gehegt,
dass
er es wüsste, wenn es so weit war. Und so war es dann auch.
Eines Morgens erwachte er von dem lauten Gesang eines Tukans, der sein melancholisches Lied von einem Brasilbaum herabschmetterte. Mbómbo, der direkt unter diesem Baum geschlafen hatte, schulterte sein Bündel und marschierte weiter gen Norden. Als die Sonne am höchsten stand, erreichte er eine kleine Lichtung, die mit Gras bestanden war. Das Plätschern eines Flüsschens war zu hören, und Mbómbo eilte sogleich hin, um das Wasser zu kosten. Es war kristallklar und schmeckte so rein, wie es aussah. Hunderte von Fischlein schwirrten silbrig durch die kleinen Strudel.
Er warf sein Bündel ins Gras, legte sich daneben und bot sein Gesicht der Sonne dar, die er seit elf Tagen nicht mehr auf seiner Haut gespürt hatte. Wie schön das war! Ah, dieses Fleckchen war paradiesisch. Hier würde er bleiben.
Mbómbo riss einen Zweig von einem Jakaranda-Baum ab, der am Rand der Lichtung stand, und steckte ihn aufrecht in das Gras. Daran befestigte er sein Hemd, so dass das Ganze die Anmutung einer Flagge hatte. Ja, hier wäre es, sein heißersehntes gelobtes Land:
Iriuanu
.
Und noch bevor Mbómbo seine erste Mahlzeit in Iriuanu – was so viel bedeutete wie Wunder – einnehmen konnte, betete er zum Himmel um ein solches.
Ein gutes Dutzend grimmig dreinschauender und wild bemalter Indios hatte ihn umzingelt.
18
I maculada, die sich dem Tode geweiht gewähnt hatte, blühte auf. Jeder, der näher mit ihr zu tun hatte, was nicht allzu viele waren, bemerkte die Veränderung. Es war unerklärlich, und einzig ein afrikanischer Zauber konnte für eine derartige Verwandlung verantwortlich sein. Besser, man hielt sich von der Hexe fern. Die Augen der Alten blitzten wie die eines jungen Mädchens, ihre Haltung war aufrecht und stolz. Hatte Imaculada zuvor aufgrund ihres Alters nur noch gelegentlich einfachste Arbeiten im Obstgarten oder im Hühnerpferch erledigt, so sah man sie nun voller Tatendrang im Mehlhaus, der
casa da farinha
, wo sie wie eine Furie Maniok in die Presse gab und den Stößel rührte, als gelte es, einen Preis zu erringen.
Auch Lua war die Veränderung nicht entgangen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie mit der Flucht von Zé zu tun hatte. Aber fragen wollte sie die Alte nicht danach. Noch immer mied sie ihre Nähe, und ihr Notizbuch lag vergessen in dem Hohlraum unter der Bodendiele, die sich gleich unter ihrer Hängematte befand und die sie mit einem Flickenteppich getarnt hatte. Lua wusste, dass sie sich keinen Fehler erlauben durfte, und mit Imaculada gesehen zu werden wäre ein grober Fehler. Man hätte sie
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