Das Lied des Kolibris
weg! Nicht Zeit mit nutzlos Alte verschwenden.«
Mbómbo nickte und verschwand, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Erst kurz vor Sonnenaufgang hielt er an.
Er war ohne Rast gewandert, zügig, aber nicht im Laufschritt. Er hatte sich Mühe gegeben, so leise wie die Afrikaner zu gehen, die angeblich auf keinen Zweig traten und sich lautlos fortbewegten. Das war ihm nicht gelungen. Das Knacken und Rascheln, das er im dichten Gestrüpp erzeugte, erschien ihm selbst laut wie Donnerhall. Immerhin hatte dies den Vorteil, dass die Tiere des Waldes ihn frühzeitig hörten und vor ihm Reißaus nehmen konnten. Er hoffte, dass kein Jaguar so hungrig war, dass er ihn anfiel, denn Kasinda hatte ihm diese Ängste nicht nehmen können. »Jaguar sein klug. Lieber Tatu essen als Mann, schmecken mehr gut und sein gefährlich weniger.«
Als der Himmel, der im Urwald über den dichten Baumkronen kaum zu sehen war, sich rötlich zu färben begann, legte Mbómbo seine erste Rast ein. Er war so erschöpft, dass er sich an einen umgestürzten Baumstamm lehnte und sofort einschlief. Er erwachte Stunden später und war zunächst orientierungslos. Sein Traum hielt ihn noch eine Weile gefangen, bis er sich die Augen rieb und in der Wirklichkeit wiederfand. Er schaute sich aufmerksam nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. War ihm die Flucht gelungen? Und war er etwa frei? Der Gedanke war so oft gedacht worden, dass er ihm jetzt, als er wahr zu werden schien, vollkommen absurd vorkam. Freiheit. Er kostete das Wort aus, sagte es laut vor sich hin und erschrak vor seiner eigenen Stimme. Der Wald hatte etwas Geisterhaftes an sich, und beinahe schon vermisste Mbómbo sein grauenhaftes Versteck, in dem er am Tage wenigstens die Stimmen anderer Menschen gehört hatte.
Die Männer, die nach ihm suchen sollten, waren bei ihrem Geschrei ja nicht zu überhören gewesen. Auch die Kinder nicht, die über den Hof rannten und Hunde und Hühner jagten. Doch in einiger Entfernung hatte er noch weitere Stimmen wahrgenommen, unter anderem die von Lua. Lua, geheimnisvoll und fern wie der Mond – und die einzige Frau, von der er sich je hatte vorstellen können, sie zu heiraten. Sie hatte in der Nähe des Hühnerpferchs mit ihrer Freundin zusammengesessen und sich mit ihr unterhalten. Einzelne Gesprächsfetzen waren zu ihm gedrungen – »soll Lulu als Mann«, »eher fliehe ich«, »ich hasse sie« – genug immerhin, um Hoffnung in ihm aufkeimen zu lassen. War Lua jetzt endlich an dem Punkt angelangt, an dem sie ihre Existenz als Sklavin in Zweifel zog? Ach, es wäre zu schön, wenn sie mit ihm gemeinsam das Quilombo gründen würde. Sie war klug und bildschön und mutig, auch wenn ihre eingeschränkte Sicht der Welt ihr noch nicht den unbezähmbaren Willen zur Freiheit erlaubte. Laut Kasinda war das aber nur noch eine Frage der Zeit.
Außerdem war sie wie geschaffen für die Liebe. Sie war noch Jungfrau gewesen, und doch hatte sie sich erstaunlich aufgeschlossen und sinnenfroh gezeigt. Mbómbo genoss die Erinnerung an jede einzelne Sekunde ihres Liebesspiels, und einzig die Tatsache, dass er sich nicht hatte beherrschen können, peinigte ihn. Was, wenn er ihr ein Kind gemacht hatte? Er musste den Gedanken jedoch vorerst verdrängen – Schuldgefühle waren auf einer Flucht hinderlich.
Mbómbo streckte sich. Er hatte krumm gelegen. Außerdem juckte es ihn überall. Ob die Insekten sich an ihm gütlich getan hatten? Angeblich, so Kasinda, schützte der Kuhdung auch davor. Dennoch würde er sich bei nächster Gelegenheit waschen. Aber vorher musste er essen. Der Beutel aus grobem Leinen, den Kasinda ihm gegeben hatte und in den er noch gar keinen Blick hatte werfen können, fiel ihm ein. Sicher befanden sich darin ein paar Leckereien. Er öffnete den Beutel und schrak zurück. Was war das? Hatte sie ihm Hexen- und Zaubermittel mitgegeben? Herrje, diese Afrikaner! Er schlug hastig ein Kreuz, bevor ihm einfiel, dass er ja gar nicht mehr dem christlichen Glauben anhing. Aber die Gesten und Rituale hatten sich auch bei ihm verfestigt. »Zum Teufel!«, sagte er laut und nahm nacheinander die merkwürdigsten Dinge aus dem Beutel: eine Hühnerfeder, einen getrockneten Hahnenkamm, eine Muschel, ein goldenes Herz, eine Handvoll Kupfermünzen, einen Raubtierzahn, eine Schlangenhaut, ein Fläschchen mit undefinierbarem Inhalt. Auf dem Boden des Beutels befand sich außerdem Erde – getrocknete Brösel eines gelben Lehms, wie er ihn auf den Fazendas noch nie
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