Das Lied des Kolibris
gesehen hatte.
Mbómbo betrachtete das goldene Herz genauer. Ob es echt war? Wenn ja, dann war es sehr viel wert und würde ihm das Leben sicher erleichtern. Er verstaute alles wieder in dem Beutel und widmete sich nun seinem eigenen Bündel, in dem er seinen Proviant hatte. Er aß ein Stück Speck, das, so ungegart und ohne Bohnen oder Suppe, viel zu salzig schmeckte. Aber mäkelig durfte er in seiner Lage nicht sein. Dann packte er die Sachen zusammen, verwischte seine Spuren und machte sich wieder auf den Weg in die Richtung, von der er glaubte, dass es Norden sein müsse – wobei das bei der ewigen Dämmerung im Urwald schwer zu bestimmen war.
Irgendwann erreichte er einen kleinen Fluss. Er kniete sich ins Uferdickicht und schöpfte mit den Händen gierig Wasser. Es schmeckte wunderbar. Er steckte den Kopf hinein und fühlte sich sofort herrlich erfrischt. Hier würde er ein Bad nehmen, beschloss er. Der Fluss war leicht schlammig, so dass man den Grund nicht sehen konnte, aber Mbómbo sicherte sich mit einer Kordel, die er an einem Baum befestigte und am anderen Ende um seine Taille schlang. Falls er abrutschte oder die Strömung ihn mitriss, würde er sich retten können.
Das Bad im Fluss war das köstlichste, das er je genommen hatte. Das angenehm warme Wasser wusch den verkrusteten Schmutz von ihm ab und erfüllte ihn mit einer unbändigen Energie. Freiheit!, jubilierte er innerlich, bis er es nicht mehr aushielt und es laut hinausrief: »Freiheit!« Als dieser erste Moment der Euphorie verklungen war, besann er sich wieder auf den langen Weg, der noch vor ihm lag, bevor er sich wirklich einen freien Mann nennen konnte.
Er würde einen mindestens zehntägigen Fußmarsch machen müssen, um in Gebiete vorzudringen, die sich noch kein Fazendeiro angeeignet hatte. Er würde sich mit Indios auseinandersetzen müssen und ihnen für ihr Land, das er zu besiedeln gedachte, einen Gegenwert anbieten. Er würde monate-, wenn nicht jahrelang von den Früchten des Waldes sowie von Wildbret, Vogeleiern und Fisch leben müssen. Milcherzeugnisse würde er in Ermangelung einer Kuh oder mindestens einer Ziege zunächst nicht genießen können, genauso wenig wie Kaffee, Zucker, Alkohol und all die anderen feinen Sachen, die zwar entbehrlich, aber lecker waren.
Aber was waren diese kleinen Unannehmlichkeiten im Vergleich zu dem größten Gut, das ein Mensch je besitzen konnte, nämlich der Freiheit? Nichts. Mbómbo würde klaglos jeden Rückschlag, jedes Hindernis und jeden Moment der Mutlosigkeit akzeptieren. Um nichts in der Welt jedoch würde er sein Ziel aus den Augen verlieren. Vielleicht wäre ihm selbst nicht mehr das Glück beschieden, die Freiheit als selbstverständliches Gut zu nehmen, wie es nur wirklich freien Menschen möglich war. Er würde immer auf der Lauer liegen und nach Sklavenjägern Ausschau halten müssen. Er würde seine kleine Freiheit vielleicht mit dem Preis der Schlaflosigkeit und der immerwährenden Anspannung bezahlen müssen. Aber das alles war es ihm wert – wenn dereinst seine Kinder als freie Menschen aufwachsen würden.
Ja, eines Tages würden sie ihn fragen: »
Pai
, was ist ein Sklave?«, und er würde mit einer Gegenfrage antworten: »Wo habt ihr denn dieses merkwürdige Wort aufgeschnappt?« Mbómbo lachte leise in sich hinein. Das war ein Traum, der es wert war, verwirklicht zu werden, koste es, was es wolle. Er beschleunigte seinen Schritt, nun entschlossener denn je, möglichst schnell an den Ort zu gelangen, an dem all dies möglich sein würde.
Mbómbos Marsch währte elf Tage. In dieser Zeit begegnete er keiner Menschenseele. Um seine Einsamkeit erträglicher zu gestalten, sang er vor sich hin. Es ärgerte ihn, dass er nur Sklavenlieder kannte, wie die Feldarbeiter sie sangen, oder christliche Gesänge, wie die Portugiesen sie ins Land gebracht hatten. Ein einziges afrikanisches Lied war ihm noch im Ohr, das seine Mutter ihm einst, als er noch sehr klein war, vorgesungen hatte. Doch er hatte den Text vergessen.
Wären die Tiere des Waldes nicht gewesen, hätte er das Alleinsein vielleicht nicht ertragen. Doch die Äffchen turnten frech um ihn herum und foppten ihn, indem sie Zweige nach ihm warfen, die zahlreichen Vögel stimmten allmorgendlich ein so wunderbares Konzert an, dass Mbómbo das Herz aufging, und der Flügelschlag der Kolibris erzeugte eine Melodie, die in Mbómbos Ohren wie das Lied der Freiheit selbst klang. In den Bäumen hockten Faultiere, deren Gesichter
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