Das Lied des Kolibris
den armen Seelen zu hören. Manche hatten eine schier unerschöpfliche Phantasie, wenn es darum ging, die Greuel zu beschreiben, denen sie angeblich fortwährend ausgesetzt waren. Da der Padre aber die Familie des Fazendeiros schon sehr lange kannte und um deren moralische Festigkeit wusste, glaubte er den Schwarzen kein Wort. Sie logen, um ihre eigenen Verfehlungen wie Notwehr erscheinen zu lassen. Dabei war es meist der Teufel Alkohol, der die Männer dazu trieb, die Weiber zu verprügeln, und der die Frauen zu unsittlichen Handlungen verführte. Was ihm die Leute diesmal erzählten, hätte er gar nicht ernst genommen, wären es nicht so viele übereinstimmende Berichte gewesen: Man ängstigte sich vor Imaculada, denn diese sei mit bösen Geistern im Bunde.
Dieselbe Befürchtung hatte der Padre auch schon gehabt, sie sich aber nicht eingestehen wollen. Die Alte weigerte sich standhaft, eine Beichte abzulegen, und das seit nunmehr 19 Jahren. So lange nämlich schon betreute der Padre die Oliveiras und ihre Schäfchen. Imaculada kam zwar in den Beichtstuhl, andernfalls hätte der Aufseher ihr eins mit der Peitsche übergezogen, doch dort schwieg sie beharrlich. Leider, so musste der Padre zugeben, war er selbst daran nicht ganz unschuldig, hatte er doch anfangs ihre Beichte dem damals noch sehr jungen Senhor weitererzählt. Imaculada musste dies irgendwie herausgefunden haben, denn in den darauffolgenden Monaten verspottete sie die heilige Beichte: »Padre, Imaculada sein sehr böse. Haben faule Mango von Boden gestohlen«, sagte sie, oder auch: »Padre, Imaculada sein sehr böse. Haben alte Besen aus Scheune genommen, machen Hexenritt damit.« Irgendwann hatte sie einfach gar nichts mehr gesagt.
Aber das musste jetzt ein Ende haben. Wenn die Alte wirklich an der Flucht des renitenten Zé beteiligt gewesen war, galt es, unter allen Umständen ihr Geständnis zu erzwingen. Es wäre verheerend, wenn noch mehr Neger frei herumliefen und sich mit Diebstahl über Wasser hielten. Ihre kindlichen Gemüter wären einer Welt ausgesetzt, in der sie sich nicht zurechtfanden und deren Schlechtigkeit sie nichts entgegenzusetzen hatten, so dass sie unweigerlich an Leib und Seele verdarben. Man sah das ja an den schamlosen Negern in der Stadt.
Als der Sonntag gekommen war, an dem die Sklaven von São Fidélio ihre Beichte ablegen sollten, und zwar in einem behelfsmäßigen Beichtstuhl aus Bambusgeflecht, der im Freien vor der Kapelle stand, war der Padre also entschlossen, Imaculada auszuhorchen, und sei es unter Androhung drakonischer Strafen. Er staunte nicht schlecht, als die Alte in den Beichtstuhl kam, sich geschmeidig hinkniete, wie sie es zuletzt vor fünfzehn Jahren geschafft hatte, und diesmal etwas sagte.
»Padre, Imaculada sein alt, sterben bald. Haben ein Wunsch, das ist Hochzeit von Lulu und Lua. Ich nicht tot, bevor die zwei heiraten. Ist große Liebe, ich wissen, aber die zwei nicht wissen.«
Der Pfarrer war zunächst sprachlos, denn mit einem solchen Wortschwall hatte er nicht gerechnet. Als er sich wieder gefangen hatte, belehrte er die alte Frau: »Imaculada, du musst den Zeitpunkt deines Todes dem lieben Gott, deinem Hirten, überlassen.«
»Ja, Padre.«
»Und was die Hochzeit der beiden jungen Leute betrifft: Ist es deshalb, warum du merkwürdige Beschwörungsformeln aufsagst und afrikanischen Heidenzauber machst?«
»Ja, Padre. Imaculada wissen, sein verboten. Aber afrikanische Zauber wirken vielleicht?«
Der Padre war unendlich erleichtert, als er dies vernahm. Er hätte eine so alte Sklavin nicht gern einem schmerzhaften Verhör ausgesetzt, das sie wahrscheinlich nicht überlebte. Dass ihr Abrakadabra nicht dem Flüchtigen gegolten hatte, sondern einem heimlichen Liebespaar gewidmet war, konnte er hinnehmen, obwohl er die Alte natürlich trotzdem dafür schelten musste.
»Imaculada, du hörst ab sofort auf mit diesen Zauberformeln. Du ängstigst die anderen Sklaven. Es war klug, dass du mir dein Anliegen anvertraut hast, denn ich werde unseren Herrn im Himmel bitten, dass er den beiden Liebenden einen Weg weist.«
Kasinda lachte sich ins Fäustchen. Von wegen »Herr im Himmel«! Den Herrn in der Casa Grande würde er bitten, etwas zu unternehmen, und genau das war es ja gewesen, was sie hatte erreichen wollen.
»Ja, Padre. Imaculada sein dumm. Lieber Gott und Padre sein klug. Imaculada sprechen fünf Ave-Maria, ja?«
»Sehr gut, Imaculada, tu das.« Der Padre war froh, als die Alte seinen
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