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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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einen Winkel zwischen dem Burgwall und dem Palas duckte.
    Thankmar trat ein und schloss die Tür hinter sich. Einen Augenblick lang ließ er die Stille auf sich wirken, die nur vom Plätschern des Regens unterbrochen wurde. Die Luft roch nach feuchtem Stroh. Es raschelte unter Thankmars Stiefeln, als er zum Altar ging. Er kniete davor nieder und umschloss mit der rechten Hand seinen Talisman, den hölzernen Span.
    Hier war sein Vater gestorben. Mehr als zwanzig Jahre waren seit jenem Sommertag im Jahre 938 vergangen, an dem er vor Ottos Soldaten in die Kapelle hatte fliehen müssen – eine Kirche, die von Papst Leo geweiht worden war. Die Tat war ein Frevel! Der alte Thankmar stand im Gotteshaus unter dem Schutz des Allmächtigen und hätte vor allen Nachstellungen sicher sein müssen. Dennoch drängten die Soldaten nach. Er wurde verwundet, konnte die Angreifer aber abwehren. Doch dann bohrte ihm ein Vasall namens Maincia heimtückisch einen Speer in den Rücken.
    Thankmar nahm das Lederband mit dem Span ab und strich mit der linken Hand über den Altar. Unter seinen Fingern spürte er die Kerbe, aus der er den Holzkeil geschnitten hatte, als er vor einigen Jahren schon einmal hier gewesen war. Damals hatte er geschworen, dass er – Thankmar, der Sohn – das herbeiführen würde, was seinem Vater verwehrt worden war: Gerechtigkeit.
    «Vater», sagte Thankmar, «ich schwöre bei meinem Leben, dass ich nicht eher ruhen werde, bis ich deinen Tod gerächt und den Thron erobert habe!»
     
    In der Hütte, in der die Blutmäntel untergekommen waren, wechselte Thankmar seine nassen Kleider gegen trockene aus. Von Ernust ließ er sich das kleine Weinfass aushändigen, das dieser von der dänischen Mark bis zur Eresburg mitgeführt und nicht aus den Augen gelassen hatte. Seinen Soldaten gab Thankmar den Befehl, die Waffen anzulegen und sich bereitzuhalten.
    Auch Thankmar gürtete sein Schwert, bevor er sich auf den Weg zum Palas machte.
    Er hatte seine kostbarsten Kleider angezogen, die, wie er meinte, eines Herrschers würdig waren. Wie an dem Tag, an dem Evurhard ihn auf der Markgrafenburg besucht hatte, trug Thankmar den purpurfarbenen, mit Eisfuchsfellen gesäumten Mantel über einer blauen Tunika. Seine Füße steckten in eingefetteten Stiefeln, die allerdings schon nach wenigen Schritten über den Hof mit Schlamm besudelt waren.
    An der Palastür traten ihm die Wachen in den Weg.
    «Gebt uns Euer Schwert, Graf», sagte einer der Soldaten.
    Thankmar nahm es ab und reichte es ihm lächelnd. Je bereitwilliger er sich zeigte, desto unwahrscheinlicher war es, dass die Soldaten ihn durchsuchen und dabei das kleine Messer finden würden, das er unter dem Mantel versteckte.
    «Was ist in dem Fass?», wollte der Soldat wissen.
    «Ein ganz besonderer Wein. Er ist ein Geschenk für Herzog Evurhard.»
    Die Soldaten warfen sich Blicke zu. Dann ging einer zur Tür und klopfte an. Die Tür wurde von innen entriegelt und geöffnet. Thankmar trat seine Stiefel ab und kam an weiteren Wachposten vorbei in den zugigen Palas.
    Die Halle war ein langer Saal, dessen Boden mit Stroh und Schilf bedeckt und in dem der Geruch nach Rauch allgegenwärtig war. In einem Kamin loderte ein Feuer, das die feuchte Kälte jedoch nicht vertreiben konnte. An den Wänden hingen Felle und Tücher mit dem Zeichen des Burgherrn Gunther. Davor standen Tische und Bänke. Platten mit abgenagten Geflügel- und Wildtierknochen zeigten Thankmar, dass man gerade üppig gespeist hatte.
    Nirgendwo waren Bedienstete zu sehen, die die Reste hätten abräumen können. Thankmar sah nur einige Männer, die um einen breiten Lehnstuhl, einem Thron ähnlich, herumstanden und sich mit Weinbechern in den Händen unterhielten.
    Es waren acht Männer: Huga sowie fünf Grafen und Herzöge, die Evurhard auf seine Seite hatte bringen können, was offenbar auch für die beiden Geistlichen galt. Bis auf einen Mann standen alle. Derjenige, der auf dem Thron saß, war nicht etwa der Burgherr Gunther, sondern Evurhard – der Mann, der sich bereits für den neuen König hielt.
    Evurhard hob die rechte Hand. Alle Gespräche verstummten, und die Männer wandten sich Thankmar zu.
    «Ich freue mich, Euch endlich wiederzusehen», sagte Evurhard feierlich.
    Er erhob sich aus dem Stuhl, kam Thankmar entgegen und begrüßte ihn. Thankmar stellte das mitgebrachte Weinfass auf einem Tisch ab, auf dem bereits ein größeres Fass stand, aus dem sich die Männer bedienten.
    Dann ergriff er

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