Das Lied des Todes
Fäusten geballten Händen vor ihm, ebenso wie drei, vier andere Männer. Die übrigen hielten sich abwartend im Hintergrund.
Aber Thankmar war sich sicher, dass keiner die Hand gegen ihn erheben würde. Sie alle hatten den Inhalt der Urkunde inzwischen gelesen und wussten nun, dass nur er, der Nachfolger König Heinrichs, ihr oberster Herrscher war.
Wer sich an Thankmar vergehen würde, beginge Hochverrat!
Außerdem würde es keiner der Verschwörer wagen, aus Protest die Gruppe zu verlassen. Sie hatten sich dem Aufstand gegen Otto verschworen, und wer diesen Schwur brach, war dem Tode geweiht.
Das Gleiche galt für jeden, der sich gegen Thankmar stellte.
«Die Urkunde ist gefälscht!», kreischte Huga. Sein Krötengesicht bebte vor Zorn und Angst.
«Sie trägt Heinrichs Unterschrift und sein Siegel», entgegnete Thankmar.
«Wir müssen Unterschrift und Siegel überprüfen», sagte Barthold. «Bevor das nicht geklärt ist, bleibt Evurhard unser Führer.»
Thankmar seufzte. Glaubten sie wirklich, Evurhard würde mit dem Leben davonkommen?
Er drehte sich zur Tür, steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Daraufhin wurde die Tür aufgestoßen. Ernust drang, gefolgt von zwei Dutzend Blutmänteln, in den Saal. Sie trieben die entwaffneten Palaswachen vor sich her.
Im Hintergrund ließ Huga einen heulenden Klagelaut hören. In den Armen hielt er seinen Herrn. Vor Evurhards Mund hatte sich gelblicher Schaum gebildet.
Thankmar gebot seinen Soldaten Einhalt. Er steckte die Urkunde ein, ging zu Huga, riss ihn von Evurhard fort und schleuderte ihn gegen den Thronstuhl, der mit einem dumpfen Geräusch umkippte.
Anschließend ließ sich Thankmar hinter Evurhard nieder und flüsterte ihm ins Ohr: «Ich habe ein Gegengift. Soll ich es dir geben?»
Evurhards Kopf wackelte hin und her. Als er den Mund öffnete, quoll Schaum hervor, bevor er ein gequältes «Jaaa!» hervorbringen konnte.
«Dann sag jetzt den anderen, wer ihr König ist», flüsterte Thankmar.
Evurhard verzog das Gesicht, als eine weitere Welle grauenvoller Schmerzen durch seinen Körper fuhr.
«Er … Thank…mar ist der … König», lallte er.
Barthold und den anderen entglitten die Gesichtszüge.
«Danke, mein Freund», sagte Thankmar.
Er zog sein Messer, setzte es an Evurhards Kehle und erlöste ihn von seinen Schmerzen.
41.
Sturmwind peitschte den Regen über das tosende Meer. Bei jedem Wellenschlag bäumte sich das Schiff auf wie ein wildes Pferd, bevor es ins Wellental hinabstürzte. Ein Schwall mit Regen vermischter Gischt ergoss sich über das Deck und die Menschen, die sich gegen die Naturgewalten stemmten.
Aki schmeckte das salzige Wasser auf den Lippen. Sein Haar und seine Kleidung trieften vor Nässe. Auch Asny, die neben ihm auf der Ruderbank saß, tropfte das Wasser vom Leib.
Bei jeder Ruderbewegung schlugen die Ketten, die man den Zwillingen um die Handgelenke gelegt hatte, gegen die blank gescheuerten Riemengriffe.
«Rudert!», brüllte der Schiffsführer gegen den fauchenden Wind an. Sein Name war Fulrad. Er war Mitte dreißig, dürr wie Treibholz und mit einem viel zu großen Bärenfellmantel bekleidet. Die ledrige Haut seines Gesichts über dem dunklen Bart war von Sonne und Seewind gegerbt.
«Verdammt noch mal – ihr sollt rudern! Oder wollt ihr, dass uns die Strömung auf die Untiefen drückt? Rudert!», rief er in der Sprache der Nordmänner. Die meisten Männer an Bord waren Dänen.
Die Riemen knarrten in den Löchern der Bordwand. Immer wieder tauchten die Ruderblätter ins schäumende Wasser. Vor und zurück bewegten sich die Ruder, vor und zurück.
Das Handelsschiff, das mit einem Laderaum ausgestattet war, war mit elf Männern besetzt. Asny war die einzige Frau an Bord. Die meisten Männer waren Händler, die ihre Waren von der Dänenmark über das Nordmeer nach Westen verschifften, um Geweihe, Tiere und Specksteine in den am großen Strom Rhenus gelegenen Städten zu verkaufen.
Das wollten auch Grim und sein Vater Geirmund, die auf der Bank hinter den Zwillingen saßen und diese nicht aus den Augen ließen. Aki und Asny gehörten nun ihnen. Sie waren ihre Sklaven – und somit das Wertvollste, das Grim und Geirmund noch hatten.
«Rudert!», rief Fulrad erneut. Er stemmte sich im Heck gegen das Steuerruder, um das Schiff auf Kurs zu halten.
Seine Augen weiteten sich, als sich plötzlich eine gewaltige Welle vor dem Vordersteven aufbaute. Das Schiff stieg höher und
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