Das Lied des Todes
Ausweg: Er musste nach Colonia, zu Ketil. Der Mönch kannte das Land, und im Gegensatz zu Aki beherrschte er die Sprache der Menschen. Also marschierte Aki weiter und erreichte schließlich die Stadt.
Nachdem er den halben Tag lang durch Gassen und Straßen geirrt war, sah er ein, dass er allein nicht weiterkommen würde. Er fasste sich ein Herz und steuerte auf einen Mann in seinem Alter zu, der lächelnd an einer Hausecke lehnte und auf etwas herumkaute. Der Mann trug einfache Kleidung und keine Waffe. Im Kopf legte sich Aki rasch ein paar Wörter zurecht, die er aus Ketils Buch gelernt hatte und von denen er hoffte, dass der Mann sie verstehen würde.
«Helft mir, oh Herr!», sagte Aki. «Wo ist das Kloster Pantalen?»
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht, und der Mann sagte etwas, das nicht annähernd so klang wie die Worte aus dem Buch.
Aki wiederholte die Frage. Vielleicht hatte er zu undeutlich gesprochen.
Der Mann musterte Aki von unten bis oben, machte einen Schritt auf ihn zu und spuckte ihm einen schwarzen Klumpen vor die Füße, der aussah wie Birkenteer. Dann hob er drohend die rechte Hand und ballte sie zur Faust. Aki drehte sich blitzschnell um und rannte weg.
Als er nach einer Weile zum Stehen kam, musste er sich an einer Wand abstützen. Er wischte sich den Schweiß von der erhitzten Stirn. Er hatte die Krankheit noch nicht vollständig überwunden. Vorsichtig drehte er sich um und sah nach, ob der Raufbold ihn verfolgt hatte. Aber er konnte ihn nirgendwo entdecken.
Wieder einmal waren Aki seine Schnelligkeit und Wendigkeit zugutegekommen, und so hatte er seinen Verfolger nach einigen Straßenecken abhängen können. Worüber sich der Mann so aufgeregt hatte, war Aki ein Rätsel.
Er wartete, bis sein Herz ruhiger schlug. Erst jetzt bemerkte er das mannshohe Holzkreuz, das nur wenige Schritt entfernt vor einer einfachen Holzhütte stand.
Vielleicht konnte der Raufbold die Christen nicht leiden, dachte Aki. Es war schließlich ihre Sprache, die Ketil ihn gelehrt hatte.
Aki ging zu der Hütte und klopfte gegen die Tür. Als auch nach dem dritten Klopfen keine Reaktion kam, zog er am Griff. Die Tür war nicht verriegelt. Er trat ein. Tageslicht sickerte durch Ritzen in den Wänden in den einzigen Raum, der bis auf ein hüfthohes Podest am anderen Ende leer war. Auf dem Altar stand ein Kreuz.
Aki wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er ein Kribbeln in der Nase spürte und nieste.
«Wenn du gekommen bist, um zu beten, warum tust du es nicht?», sagte eine Stimme.
Aki wirbelte herum und sah hinter dem Altar einen Mann auftauchen. Aki blieb an der Tür stehen, während der Mann auf ihn zukam und dabei sein dunkles Gewand glatt strich.
Ein Priester, dachte Aki.
Über seiner Brust pendelte ein Silberkreuz, das an einem Lederband um seinen Hals hing. Der Mann riss den Mund auf und gähnte herzhaft. Seine Oberlippe war gespalten.
«Ich habe den ganzen Tag gewartet, dass jemand zum Gottesdienst kommt», sagte er. «Dabei muss ich wohl eingeschlafen sein.»
Der Priester grinste.
Aki sagte schnell seinen Satz auf.
Der Priester hob die Augenbrauen. «Pantalen? Du meinst sicher das Kloster des heiligen Pantaleon.»
Aki nickte.
«Dein Latein ist ordentlich, mein Sohn, auch wenn ich deine Aussprache merkwürdig finde. In welchem Kloster bist du unterrichtet worden?»
Aki dachte angestrengt nach. Er durfte nichts Falsches sagen. Ketil hatte einmal ein anderes Kloster erwähnt, das an dem Fluss lag, an dessen Mündung sie vorbeigefahren waren.
Der Priester wartete.
«Wesera», sagte Aki.
«So heißt ein Fluss. Aber welches Kloster?»
Aki senkte den Kopf.
«Du weißt nicht mehr, nach wem dein Kloster benannt wurde? Vielleicht war es Cluny?»
«Ja!», sagte Aki schnell.
Der prüfende Blick des Priesters traf ihn.
«Der heilige Pantaleon war ein berühmter Medikus, ein außergewöhnlicher Heiler von Gottes Gnaden. Wusstest du, dass Milch aus seiner Wunde lief, als man ihm mit einem Schwert den Schädel spaltete?»
«Nein.»
«Sankt Pantaleon. Den Namen solltest du dir merken, mein Sohn. Und noch etwas: Lerne weiter fleißig Latein – und lerne Gottes Gebote. Eines lautet: Du sollst nicht lügen. An der Wesera liegt das Kloster Corvey.»
Das Kloster des heiligen Pantaleon lag vor den Toren der Stadt und war umgeben von Feldern, Äckern und Hütten. «Es liegt still und von der lästigen Unruhe entfernt», hatte der Priester gesagt, als er Aki den Weg dorthin erklärt
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