Das Lied des Todes
das Gelände ab. Die Flüchtenden waren nirgendwo zu sehen. Thankmar und Ernust waren bis zu den letzten Hütten gelaufen, hinter denen sich eine Brachfläche öffnete, die sich zwischen dem Siedlungswall und dem Flussufer bis zur Mündung zog.
«Verdammt! Wo sind sie hin?», rief Thankmar.
Ernust zuckte ratlos mit den Schultern. Dann hielt er plötzlich inne und zeigte in Richtung einer in den Rhenus auslaufenden Landzunge. Da erkannte auch Thankmar die Gestalt, die sich schwerfällig am Ufer entlangbewegte.
«Das ist aber nur einer», meinte Ernust.
Thankmar schüttelte den Kopf. «Er trägt das Weib, wegen der Fußfessel.»
Sie hasteten am Ufer entlang, das mit Flechtzäunen und Pfählen befestigt war. Der Abstand verringerte sich schnell, und es dauerte nicht lange, bis sie auf etwa dreißig Schritt herangekommen waren.
Thankmar wurde langsamer. Der Däne lief geradewegs in eine Falle. Vor ihm verschwand der Weg an der überfluteten Landzungenspitze. Erst als er den Wassersaum erreicht hatte, blieb er stehen, drehte sich um und hievte die Frau von seiner Schulter.
Thankmar und Ernust näherten sich mit gezogenen Schwertern. Der Däne war so schlau, seines im Gürtel zu lassen.
«Nehmt das Weib!», rief er panisch. «Sie gehört Euch. Aber lasst mich am Leben.»
Die Frau stand zitternd neben ihm.
Es war Thankmar ein Rätsel, warum der Däne solche Angst vor ihm hatte. Er konnte doch keine Ahnung haben, wer die Sklavin war. Oder doch?
Thankmar kam näher, und mit einem Mal dämmerte ihm, dass er dieses schiefe Gesicht schon einmal gesehen hatte, auch wenn er nicht mehr wusste, wann und wo das gewesen war. Vermutlich in Haithabu.
«Wo ist ihre Mutter?», fragte Thankmar und richtete das Schwert auf den Hals des Dänen.
Dem Kerl schlotterten die Knie. «Ich weiß … es nicht.»
«Ich gebe dir dreißig Silbermünzen, wenn du es mir sagst!»
Der Däne schluckte. «Sie ist … in der Mark. Wir haben nur das Weib hier erwischt. Die anderen sind geflohen.»
Ernust hielt sich zurück, während Thankmar einen weiteren Schritt vortrat. Die Klinge war nur noch eine Handbreit von der Kehle des Dänen entfernt. Die Frau versteckte sich hinter seinem Rücken.
«Wo war das?», fragte Thankmar.
«In einem Wald. Nicht weit entfernt vom Treenehafen.»
«Warum habt ihr sie nicht zu mir gebracht? Jeder in der Mark kennt die Summe, die ich als Belohnung ausgelobt habe, und so wie du aussiehst, würdest du dir das Geld wohl kaum entgehen lassen.»
Er konnte sehen, wie es hinter der breiten Stirn des Dänen arbeitete.
«Wir haben Euch auf Eurer Burg nicht angetroffen, Herr.»
Thankmar lächelte. Das war eine gute Antwort, aber leider die falsche. Wenn der Däne wirklich auf der Markgrafenburg gewesen wäre, hätte man ihn mit der Tochter der Seherin nicht wieder ziehen lassen. Jeder Mann dort wusste, dass Thankmar alles tun würde, um der Seherin auf die Spur zu kommen.
Er ließ sein Schwert sinken und hielt dem Dänen den Geldbeutel hin. Der Däne zögerte. Er misstraute Thankmar.
Als Thankmar aufsah, merkte er, dass die Frau sich ein Stück fortbewegt hatte. Sie stand bereits mit den Füßen im Wasser.
«Wir nehmen deine Sklavin, und du nimmst das Geld», sagte Thankmar.
Der Däne zögerte immer noch. Seine Finger zitterten.
Als er schließlich nach dem Beutel griff, beschrieb Thankmars Schwert einen Bogen, und die Klinge blitzte im blutroten Licht auf, als sie die Hand des Dänen abtrennte. Fassungslos starrte er auf die Stelle, an der eben noch seine Hand gewesen war. Dann begann er zu schreien.
Die Frau ging weiter ins Wasser, war aber noch einige Schritte von den gefährlichen Stromschnellen entfernt.
Thankmar lachte und trennte mit einem zweiten Hieb dem Dänen den Kopf ab. Der Schädel flog durch die Luft und plumpste vor der Frau ins Wasser.
Ernust stieß ein anerkennendes Grunzen aus. Dann hob er die Hand vom Boden auf, in der noch immer der Geldbeutel steckte.
Thankmar ließ sein Schwert zurück in die Scheide gleiten und folgte der Frau, der das Wasser bereits bis an die Knie reichte. Es wurde Zeit, sie zu holen. Nur noch wenige Schritte, dann würde sie von der Strömung mitgerissen werden.
Thankmar reichte ihr lächelnd seine rechte Hand. Zwischen ihnen dümpelte Grims Kopf, und das Wasser färbte sich rot.
54.
Aki schlüpfte an den Wachen vorbei durch das Stadttor. Er hatte sich unter eine Gruppe Arbeiter gemischt, die mit Säcken und Bauholz beladene Karren nach Colonia brachten. Als
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