Das Lied des Todes
Hände rauften die Haare um die frisch geschorene Stelle auf dem Kopf.
Über den Winter war die Tonsur herausgewachsen. Aki hatte sich so an Ketils Anblick mit den längeren Haaren gewöhnt, dass er ihn im ersten Moment beinahe nicht wiedererkannt hätte.
Die Verfolger auf den Fersen, hatte Aki die Tür zum Skriptorium fast erreicht, als einer der Arbeiter ihn einholte. Der Knüppel verfehlte Aki nur knapp. In seiner Panik war ihm nichts anderes eingefallen, als immer wieder lauthals nach Ketil zu rufen – offenbar laut genug. Bevor die Männer ihn zusammenschlagen konnten, wurde die Tür aufgerissen, und ein vollkommen überraschter Ketil tauchte auf. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick, bis er die Situation erfasste. Er stieß den zuvorderst stehenden Arbeiter so hart gegen die Brust, dass der Mann einige Schritt rückwärts durch die Luft flog. Die anderen wichen zurück, und auch dem Pförtner, der Aki fortwährend als Einbrecher und Dieb beschimpft hatte, blieben die Worte im Halse stecken.
«Oh nein!», stieß Ketil zwischen zwei Schluchzern aus. «Nein, nein, nein! Das darf nicht wahr sein. Was habe ich nur getan!»
Nach einer Weile richtete er sich wieder auf. Sein Gesicht war tränenüberströmt. «Es ist alles meine Schuld! Alles meine Schuld! Oh Gott, könnte ich doch nur irgendetwas tun.»
Seine Unterlippe zitterte. «Ich hätte euch niemals allein lassen dürfen. Ich hätte darauf bestehen müssen, dass ihr die Mark verlasst.»
Aki spürte den Kloß in seinem Hals dicker werden. «Es ist nicht deine Schuld. Velva wäre niemals mit dir mitgekommen.»
«Aber du und Asny, ihr hättet das tun sollen. Vielleicht hätte Velva sich dann rechtzeitig in Sicherheit bringen können.»
Es lässt sich nicht mehr ändern, wollte Aki sagen, brachte es jedoch nicht über die Lippen. Er schaffte es ja kaum, sich selbst gegenüber einzugestehen, dass seine Mutter nicht mehr lebte.
«Und Asny wäre nicht verschleppt worden von diesen … diesen …», rief Ketil.
Die zerrauften Haare standen von seinem Kopf ab wie die Stacheln eines Igels.
In der Nähe standen zwei Mönche in einem abgelassenen Fischteich und schaufelten Schlamm ans Ufer.
Ketils Fäuste hämmerten auf die Bank, dann sprang er mit einer solchen Wucht auf, dass Aki fast heruntergefallen wäre. Mit zwei Sätzen war Ketil bei einem Baum. Es knackte laut, als er einen armdicken Ast abbrach wie einen dünnen Zweig.
Die Mönche unterbrachen ihre Arbeit und schauten herüber.
«Verschleppt von diesen Bastarden …», brüllte Ketil den Baum an.
Der Ast krachte gegen den Stamm. Holz splitterte.
«Ich werde euch die Schädel einschlagen, ihr verdammten Bastarde!»
Die Mönche kletterten aus dem Teich und rannten davon, als wäre ihnen ein Dämon erschienen.
«Ihr verdammten Bastarde!», brüllte Ketil noch einmal.
Der zerbrochene Ast entglitt seinen Händen und fiel zu Boden. Ketil stieß einen Seufzer aus, der geradewegs aus dem Totenreich zu kommen schien. Mit hängenden Schultern schleppte er sich zurück. Die Bank ächzte unter seinem Gewicht.
Aki wartete, bis sich Ketils keuchender Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte.
«Du kannst etwas tun», sagte er dann.
«Was?»
«Du kannst mir helfen, Asny zu suchen.»
Ketil nickte langsam. «Aber wo?»
«Vielleicht ist sie auf der Diusburg. Fulrad, der Schiffsführer, wollte dorthin. Bestimmt hat er Grim und Geirmund gezwungen, Asny dort zu verkaufen.»
«Selbst wenn sie dort sein sollte, ist es schon eine Woche her, seit du dort vorbeigekommen bist, wie du erzählt hast. Bis wir die Burg erreicht haben, wären noch ein paar Tage vergangen.»
Er fuhr sich über die Bartstoppeln auf seinem Kinn.
«Wir könnten Herrn Brun um Hilfe bitten», sagte Aki.
«Hm», machte Ketil. «Das wäre die beste Möglichkeit. Er hat Macht, und er hat Geld. Wenn jemand Asny ausfindig machen könnte, dann Herr Brun.»
Aki ergriff Ketils Arm. «Lass uns sofort zu ihm gehen. Asny ist in großer Gefahr, das spüre ich.»
Ketil sog hörbar Luft durch die Nase ein. «Er … ich fürchte, nein, ich weiß, dass er im Moment ganz andere Probleme hat. Er muss den Reichstag und die Krönung vorbereiten und …»
«Und?»
Aki rutschte auf der Bank hin und her. Er hatte den Eindruck, Ketil jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen zu müssen.
«Und», sagte Ketil langsam, «und es ist jemand auf dem Weg nach Colonia, der ihm sehr große Sorgen bereitet.»
«Wer ist das?», fragte Aki ungeduldig.
Ketil
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