Das Lied des Todes
Schwert zu zeigen. Ernust war einen halben Schritt hinter ihm stehen geblieben. Noch beachtete sie niemand. Die Dänen glotzten in ihre Bierkrüge, und die Seeleute unterhielten sich. Die Sklavin hielt den Kopf gesenkt.
Zwischen den Gästen schob sich ein Mann mit fleckiger Schürze hindurch und brachte neues Bier an den Tisch. Er stellte die vollen Krüge ab, sammelte die leeren ein und verkündete, dies sei die letzte Runde.
Die Männer tranken.
Thankmar trat dichter an den Tisch und räusperte sich hörbar.
Es war die Frau, die als Erste den Kopf hob.
Sie spürt meine Anwesenheit, dachte er.
Er nahm den Lederbeutel und wollte ihn gerade vor den Dänen auf den Tisch legen, als sein Blick den der jungen Frau traf. Ihre Augen weiteten sich.
Thankmars letzter Zweifel, so er denn noch einen gehabt hatte, verflüchtigte sich, als er in das vor Angst verzerrte Gesicht schaute. Ja, bei Gott! In den Zügen war unverkennbar die Seherin zu erkennen. Es war die Tochter!
Da öffnete sich ihr Mund. Ein Schrei drang aus ihrer Kehle, der sich so grauenvoll anhörte wie die Schreie, die Thankmar quälten.
Vor dem Gasthaus verstummten die Gespräche. Männer wandten sich Thankmar zu, der wie erstarrt mit dem Geldbeutel in der Hand dastand.
Er spürte, wie der Druck zurückkehrte, und zwang sich, tief zu atmen.
Aber bevor er den Sklavenhändlern ein Angebot unterbreiten konnte, war der junge Däne mit dem verunstalteten Gesicht aufgesprungen und zog ein Kurzschwert. In seiner überhasteten Bewegung stieß er mit den Oberschenkeln gegen die Tischkante. Der Tisch kippte um und riss die Männer auf der anderen Seite mitsamt der Bank zu Boden. Bierkrüge rutschten herunter und zerplatzten. Bier ergoss sich über die Männer.
Blitzschnell zog Thankmar sein Schwert. Ernust hatte seines bereits in der Hand und die Klinge auf den Dänen gerichtet, der ein Gesicht machte, als habe man ihm glühende Kohlen in die Hose gestopft.
Die Frau schrie noch immer.
Bis auf den alten Dänen hatten sich alle anderen Männer schnell wieder aufgerappelt. Es waren mehr als ein Dutzend kräftiger, angetrunkener Kerle, denen die Abwechslung offenbar gerade recht kam. Sie zückten ihre Beile, Kurzschwerter und Messer. Die Waffen wirkten zwar geradezu kümmerlich, verglichen mit Thankmars und Ernusts Klingen, aber die anderen waren deutlich in der Überzahl.
Der Däne packte die Sklavin und nutzte das Durcheinander, um mit ihr zu verschwinden. Er drängte sie fort, wobei er den anderen Männern etwas zurief.
Als Ernust ihnen nacheilen wollte, versperrten die Seeleute den Weg. Das Bier hatte sie streitlustig gemacht. Dennoch schien ein Rest an Vernunft sie davon abzuhalten, sich auf die beiden Männer zu stürzen, die wie Kriegsherren aussahen. Vielleicht waren es die langen Klingen, vielleicht die Blicke, in denen harte Entschlossenheit lag – Entschlossenheit zum Töten.
Thankmar sah den Dänen und die Sklavin hinter einer Gruppe Schaulustiger verschwinden und zielte mit dem Schwert auf den Mann, der sich am weitesten vorgewagt hatte. Der Kerl war dürr wie ein Ast, was auch der Bärenfellmantel nicht verbarg.
«Aus dem Weg, Algenfresser», zischte Thankmar. «Oder dein Mantel kriegt ein ganz hässliches Loch.»
Der Mann runzelte die Stirn. «Warum wolltest du die Sklavin rauben?»
«Ich wollte sie kaufen.»
«Kaufen?»
Der Bärenfellmann ließ sein Schwert sinken und drehte sich nach seinen Leuten um.
«Nein!», kreischte plötzlich eine Stimme. Dem Alten war es gelungen, unter dem Tisch hervorzukriechen. Beim Aufstehen musste er sich an der Tischkante abstützen. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem rechten Fuß.
«Die Männer wollen dich um dein Geld bringen, Fulrad», keifte der Alte.
Thankmar klimperte mit den Münzen im Geldbeutel. Die Augen des Bärenfellmanns leuchteten auf. Er streckte eine Hand aus, um nach dem Beutel zu greifen, aber Thankmar zog ihn zurück.
«Ihr bekommt Geld, wenn wir die Sklavin haben.»
Der Bärenfellmann und die anderen Seeleute traten zur Seite.
Als der Alte protestieren wollte, schlug ihm Ernust mit der linken Faust so hart ins Gesicht, dass er über den umgekippten Tisch geschleudert wurde.
Sie nahmen die Verfolgung auf.
Es dämmerte. Das Licht der untergehenden Sonne überzog das Hafengelände und die umliegende Landschaft mit einem roten Schimmer. Thankmar liebte dieses Licht, es erinnerte ihn an seine Lieblingsfarbe. Aber im Moment hatte er keinen Sinn dafür. Er suchte mit den Augen
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