Das Lied des Todes
hatte.
Still war es jedoch nicht in diesem Kloster. Schon von weitem hörte Aki die Geräusche von Hämmern und Meißeln, mit denen Steine bearbeitet wurden. In der von einer Mauer umschlossenen Anlage erhob sich ein gewaltiges, von Gerüsten umgebenes Gebäude. Vermutlich war das die Kirche, von der Ketil erzählt hatte. Das Bauwerk, das auf den Fundamenten eines abgerissenen römischen Gebäudes errichtet wurde, sollte der Stolz des Klosters werden.
Der Weg, dem Aki folgte, endete vor dem Portal des Bauwerks. Überall liefen Arbeiter umher, schleppten Steine, sägten Holz und schoben Karren.
Aki wollte nicht auf der Baustelle nach Ketil fragen. Er entdeckte einen zweiten Weg, der zu einer kleinen Hütte und einer abseits gelegenen Pforte führte, und wandte sich ihm zu. Als Aki die Hütte fast erreicht hatte, drang eine wütende Stimme daraus hervor. Vorsichtig ging er weiter und spähte durch den Spalt der halb geöffneten Tür ins Innere. Ein beleibter Mönch stand mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch und wischte das aus einem umgekippten Becher ausgelaufene Bier von der Platte.
Aki duckte sich und huschte an der Tür vorbei zur Pforte. Wenn der Mönch ihn sah, hielt er ihn bestimmt auf und verweigerte ihm den Zugang zum Kloster.
Aki drückte gegen die eiserne Pforte. Als sie nach innen schwang, knarrte sie fürchterlich in den Angeln, und sofort war aus der Hütte ein wütender Ruf zu hören.
Er stürmte los. Nach einigen Schritten warf er einen Blick über seine Schulter und sah den Mönch, der mit rot angelaufenem Gesicht hinter ihm herrannte. Er war nicht mehr der Jüngste, und sein dicker Bauch behinderte ihn. Die Distanz zwischen ihm und Aki wurde schnell größer. Hinter einer Hausecke schlug Aki einen Haken. Er rannte an Holzhütten und Steingebäuden vorbei in Richtung der Mauer. Dort angekommen, schaute er sich abermals um, konnte aber weder den Mönch noch sonst jemanden sehen.
Aki folgte einige Schritte dem Verlauf der Mauer, bevor er sich wieder der Baustelle zuwandte. Hier stieß er auf weitere Mönche. Es waren drei Knaben, die ein Lied sangen. Ihre Stimmen klangen so schräg und unharmonisch, dass es Aki einen Schauer über den Rücken jagte. Die Knaben unterbrachen ihren Gesang, als sie Aki bemerkten, und ein etwa zehnjähriger rothaariger Junge mit abstehenden Ohren trat ihm in den Weg.
«Bist du ein Mönch?», fragte er mit Blick auf Akis verdreckte Kleider.
«Ich … bin neu.»
Der Knabe grinste so breit, dass sich seine Ohren bewegten.
«Mein Name ist Ruotger, und das sind Iring und Waldrich. Wir würden dir gern ein Lied vorsingen.»
Während Aki das Gejammer über sich ergehen ließ, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bei der Kirche. Zwei Mönche waren um die Ecke gekommen und schauten zu ihnen herüber. Doch beim Anblick der Knaben gingen sie kichernd weiter.
Ungeduldig wartete Aki, bis das Lied zu Ende war.
«Wie hat es dir gefallen?», fragte Ruotger.
«Ja, gut», sagte Aki. «Ich suche Ketil.»
Ruotger warf ihm einen skeptischen Blick zu. «Wirklich?»
«Ja, Ketil. Ein sehr großer Mann.»
«Hat dir das Lied wirklich gefallen?»
Aki nickte übertrieben heftig.
Ein Lächeln legte sich auf Ruotgers Lippen, und auch die anderen beiden schienen mit der Antwort zufrieden zu sein.
«Wenn du magst, singen wir dir noch eins vor», bot der Rothaarige an.
Aki stöhnte innerlich auf. Wenn der dicke Pförtner die Verfolgung doch nicht aufgegeben hatte, konnte er jeden Moment auftauchen.
«Vielleicht später, nachdem du bei Ketil warst?», fragte Ruotger.
Als Aki das hörte, hätte er beinahe einen Freudenschrei ausgestoßen. Ketil war also hier!
«Wo ist er?», fragte er.
Ruotger zeigte auf ein zweistöckiges Steingebäude ganz in der Nähe. «Er müsste im Skriptorium sein. Ich habe ihn vorhin hineingehen sehen.»
Aki ließ die Knaben stehen und lief auf das Haus zu.
Auf halbem Wege hörte er laute Stimmen hinter sich, von denen er eine wiedererkannte – sie gehörte dem Pförtner. Er hatte Verstärkung geholt. Zu sechst stürmten sie hinter Aki her: drei Mönche und drei andere Männer, vermutlich Arbeiter, mit Knüppeln und Hämmern bewaffnet.
Aki begann zu schreien.
55.
Aki schaute schweigend zu, wie sich der Riese neben ihm auf einer Bank im Klostergarten in ein Häufchen Elend verwandelte. Ketil krümmte sich wie unter einer heftigen Schmerzattacke. Sein Oberkörper kippte nach vorn, die Stirn schlug auf die zusammengepressten Knie, und seine
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