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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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betrachtete seine Schuhe. «Ein Mann, dem wir beide besser nicht vor die Augen treten.»

56.
    Vor den Nächten hatte sie am meisten Angst. Wenn es dunkel wurde, kam der Graf ins Zelt. Asny versuchte sich dann schlafend zu stellen. Regungslos saß der Graf an ihrem Lager. Sie konnte seine Blicke spüren und seine Atemzüge hören, tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Und sie nahm seinen Geruch wahr. Ein Geruch nach Schweiß, kaltem Schweiß – und Blut. Aber roch er wirklich nach Blut? Oder bildete sie sich das nur ein?
    An diesem Abend hockte sie mit angezogenen Knien am Feuer und wartete darauf, dass ihr glatzköpfiger Bewacher sie wieder an den eisernen Griff einer Truhe neben ihrem Schlaflager kettete. Tagsüber lag sie gefesselt in einem mit Segeltuch überspannten Wagen. Sie wusste nicht, wohin die Reise ging. Nur, dass das Heer, nachdem es den Strom überquert hatte, dem Flusslauf stromaufwärts folgte.
    Der Glatzkopf räusperte sich. Er stand gelangweilt beim Zelteingang und pulte sich mit der Spitze eines Messers Dreck unter den Fingernägeln hervor.
    Durch die Zeltbahnen schimmerte das Licht der untergehenden Sonne. Wie jeden Abend hatte das Heer den Marsch mit Einbruch der Dämmerung unterbrochen. Dieses Mal lagerte es in der Nähe einer Siedlung, die man Nussia nannte, wie Asny aus einem Gespräch des Glatzkopfes mit einem dänischen Blutmantel erfahren hatte. Für die Heerführer hatte man Zelte errichtet. Die Soldaten und das Gesinde schliefen in Decken und Fellen unter freiem Himmel.
    Als vor dem Zelt Schritte und Stimmen zu hören waren, schob der Glatzkopf das Messer hinter seinen Gürtel und ging zu Asny. Bevor er jedoch dazu kam, sie anzuketten, trat der Graf ein.
    Asny erschrak. Er tauchte viel früher auf als an den anderen Abenden.
    Eine innere Stimme sagte ihr, dass das nichts Gutes bedeutete. Bislang hatte er sie nur ein einziges Mal nach ihrer Mutter gefragt. Gleich in der ersten Nacht war das gewesen, an dem Tag, an dem er Grim den Kopf abgeschlagen hatte. Wieder und wieder hatte der Graf ihr diese Frage gestellt. Asny hatte einsilbig Grims Geschichte bestätigt, dass Velva noch lebe, sie aber nicht wisse, wo ihre Mutter sich versteckt halte. Sie glaubte, dass diese Lüge ihr Überleben sichern würde. Solange der Graf annahm, er könnte Velva eines Tages mit Asnys Hilfe aufspüren, würde er sie verschonen. Hoffte sie zumindest.
    Sie zog die Beine noch dichter an ihren Oberkörper. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als der Graf näher kam. Das Schwert schaute unter dem blutroten Mantel hervor.
    Er wechselte einige Worte mit dem Glatzkopf, der daraufhin das Zelt verließ.
    Im Feuer knackte ein Scheit. Funken stoben auf und rieselten auf die staubigen Stiefel des Grafen.
    Asny hielt den Blick gesenkt. Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Er stand schweigend vor ihr und starrte sie an. Asnys Unbehagen wuchs.
    Nach einer Weile betraten zwei Soldaten mit einem hölzernen Bottich das Zelt, den sie am Feuer abstellten. Aus dem Zuber stieg heißer Wasserdampf auf, und Asny erinnerte sich sofort an den Kessel mit kochendem Wasser, in den Velva ihre Arme hatte tauchen müssen. Die Narben auf ihren Armen und Händen waren niemals wieder verschwunden.
    Asny schlang die Arme ganz fest um die Beine, um das aufkommende Zittern zu unterdrücken. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie der Graf eine Hand in den Bottich steckte, sie aber sogleich wieder herauszog. Er rief den Blutmänteln etwas zu, die daraufhin schnell das Zelt verließen. Kurz darauf kehrten sie mit zwei Eimern zurück und schütteten weiteres Wasser in den Bottich. Der Graf prüfte erneut den Inhalt, und nun schien er zufrieden zu sein.
    Er schickte die Soldaten fort. Als er mit Asny allein war, trat er neben sie.
    In ihrem Kopf arbeitete es. Sie würde ihm gehorchen müssen, was auch immer er von ihr verlangte, und die Angst vor dem, was kommen würde, lähmte sie.
    Mit einer ruhigen Bewegung streckte er seine rechte Hand aus. Sie spürte einen sanften Druck auf ihrer Schulter.
    «Nenn mir deinen Namen.»
    Seine Stimme klang so irritierend warm und freundlich, dass Asnys Angst noch größer wurde.
    «Dein Name!»
    «Ich …»
    «Hm?»
    Seine Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter.
    «Asny», flüsterte sie.
    «Asny!» Es hörte sich an, als ließe er sich den Namen auf der Zunge zergehen wie einen zarten Bissen.
    Er bedeutete ihr, sich zu erheben. «Komm, Asny.»
    Sie reagierte nicht. Noch niemals hatte ein Mann sie so

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