Das Lied des Todes
weiteres Kleid und Schmuckstücke aus der Truhe neben Asnys Schlaflager geholt. Sie streifte das Kleid über und konnte ihren Augen kaum trauen. Nie zuvor hatte sie ein so herrliches Kleid gesehen, geschweige denn getragen. Es war aus feinstem, purpurfarbenem Leinen und musste ein Vermögen gekostet haben.
«Halt still», bat sie der Graf. «Ich habe es auf der Diusburg gekauft. Es war eine Eingebung – und nun kenne ich den Grund. Es kann kein Zufall sein. Die Sachen sind wie für dich gemacht.»
Seine Finger näherten sich ihrem Gesicht. Asny wagte kaum zu atmen, als er eine feuchte Haarsträhne aus ihrer Stirn strich und ihr dann ein gewebtes Band, eine
vitta
, um die Schläfen legte. Ihren Hals schmückte er mit einer Kette aus bunten Steinen und ihren Kopf mit einem silberglänzenden Diadem. Den Umhang, den er ihr schließlich um die Schultern legte, band er mit goldenen Schnüren zu und befestigte daran eine mit Edelsteinen besetzte Fibel.
Als er fertig war, trat er zwei Schritte zurück und betrachtete sie in Gänze. Er schien zufrieden mit dem Anblick zu sein, denn er nickte anerkennend und führte sie dann an den Zuber, damit sie hineinschaute.
Asny erschrak, als sie sich über den Bottich beugte. Ihr Spiegelbild war im Feuerschein zwar nur verschwommen zu erkennen. Aber es reichte aus, um ihr einen Eindruck der Pracht zu verschaffen, mit der sie angetan war. Es war unglaublich. Sie sah aus wie eine …
Ein schrecklicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie konnte ihr Spiegelbild nicht länger ertragen und taumelte einige Schritte vom Zuber fort. Mit einem Mal schienen der Schmuck und die Kleider das Gewicht von Mühlsteinen zu haben. Ihr Hals schnürte sich zusammen, und als sie zum Grafen schaute, begann sie am ganzen Körper zu zittern.
Sein Gesicht hatte sich verändert. Der freundliche Ausdruck war verschwunden. Er starrte sie finster an, die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen, und in seinem Blick lag Hass.
Er streckte seine linke Faust in ihre Richtung, drehte die Finger nach oben und öffnete sie. Auf der Handfläche sah Asny etwas liegen. Es war ein Tier, ein Insekt. Dann erkannte sie, dass es ein Schmetterling war. Ein getrockneter Schmetterling.
«Freu dich!», zischte er. «Du sollst lächeln!»
Er trat vor sie. Hielt ihr den Schmetterling vors Gesicht. Sein Blick huschte über ihre Lippen. Asnys Mundwinkel zuckten.
Sie sah ihn mit der rechten Hand ausholen und spürte gleich darauf einen brennenden Schmerz auf ihrer Wange. Der Schlag schleuderte ihren Kopf zur Seite. Das Diadem fiel zu Boden.
«Freu dich!», schrie er. «Eine Königin hat sich zu freuen, wenn man ihr ein Geschenk macht!»
Draußen begann es zu regnen, und dicke Tropfen hämmerten gegen die Zeltwände.
57.
Aki schaute zu, wie die Dunkelheit dem neuen Tag wich. In der Nacht war ein heftiger Wolkenbruch niedergegangen, und in den Pfützen auf dem Klosterhof spiegelte sich ein blasser Morgenhimmel. Die Pfützen funkelten wie Edelsteine. Oder wie Augen. Augen, die ihn beobachteten.
Die halbe Nacht hatte er am Fenster der Zelle des Gästehauses verbracht, nachdem er sich zuvor auf der Pritsche ruhelos von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Während die Regentropfen gegen die geschlossene Lade trommelten, lag er wach und grübelte. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Asny.
Er hatte versucht, Ruhe zu finden, indem er sich zwang, an die schönen Zeiten zu denken, etwa an die Geschichte mit dem
raf
, dem Bernstein. Eines Tages, die Zwillinge waren damals etwa acht Jahre alt, hatte Velva sie gebeten, einige der braungelben Steine zu suchen. Velva schnitzte aus dem Raf kleine Figuren, die sie verkaufte oder gegen Vorräte tauschte, und sie brauchten dringend Essen. Ihre Vorräte waren wieder einmal zur Neige gegangen, und die kleine Gyda war krank. Daher machten sich die Zwillinge auf den Weg ans Meer. Ihnen war klar, was vom Erfolg oder Misserfolg abhing, und so wollte natürlich jedes der Kinder den größten Bernstein finden, um Velva damit glücklich zu machen. Ihr Ziel war eine östlich von Haithabu gelegene Meeresbucht. Auf dem mit Treibgut übersäten Strand machten sie sich an die Suche. Am Ende des Tages hatte Asny mehrere wunderschöne Exemplare in ihrem Beutel, während Aki lediglich eine Handvoll kaum daumennagelgroße Bernsteine vorweisen konnte. Als Asny merkte, wie niedergeschlagen ihr Bruder war, führte sie ihn zu einer Stelle, an der das angeschwemmte Seegras von den Wellen zu einem Haufen
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