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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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waren nur schmale Schlitze, als würden sie von grellem Licht geblendet.
    Er wäre kein so mächtiger Herrscher geworden, wenn er übereilte Entscheidungen treffen würde, dachte Brun. Und er hatte viele richtige Entscheidungen getroffen. Die Überzeugung, immer das Richtige zu tun, hatte ihn niemals betrogen.
    Für dieses Selbstverständnis bewunderte Brun seinen Bruder, der inzwischen fünfzig Jahre alt war. Sein Bart war grau und sein Gesicht von tiefen Falten gezeichnet. Aber sein Geist war wach, hellwach, so wie damals, als er dem dreizehn Jahre jüngeren Brun eine erste Lektion in Sachen Menschenkenntnis erteilt hatte.
    Brun lebte zu der Zeit in einem Kloster. Er war fünf Jahre alt, ein zarter Knabe, schmächtig und mehr den geistigen Künsten und geistlichen Idealen zugetan als den kämpferischen Auseinandersetzungen wie viele Altersgenossen. Auch unter den Novizen im Kloster gab es etliche, die sich durch Kraftproben und Großmäuligkeit hervorzutun versuchten. Natürlich wussten alle, wer Brun war. Aber sein Vater, König Heinrich, hielt sich weit entfernt im Slawenland auf. Dorthin hatte er auch Otto mitgenommen, und so war Brun ständigen Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt.
    Bis Otto dies unterband.
    Es war ein kühler Herbsttag gewesen. Zwei Jungen, die einige Jahre älter waren als Brun, hatten ihn in einen Stall geschleppt, wo sie ihn zwingen wollten, Pferdemist zu essen. Da Brun sich weigerte, hielt ihm einer der beiden die Hände auf dem Rücken fest, während ihm der andere die Nase so lange zudrückte, bis Brun den Mund öffnen musste. Das Zeug schmeckte so widerlich, dass sich Brun heute noch an den Geschmack erinnerte, wenn er Pferdeäpfel sah. Vermutlich hätten die Knaben ihn dazu gebracht, das Zeug hinunterzuschlucken, wenn Otto nicht mit einem Mal aufgetaucht wäre. Er war damals achtzehn Jahre alt, groß gewachsen und kräftig.
    Er war ein Krieger! Ein Krieger, dessen bloßes Erscheinen die Novizen so sehr lähmte, dass sie außerstande waren zu fliehen. Otto ließ sie vor sich niederknien. Tränen liefen ihnen über die Wangen. Bei einem bildete sich vorn auf der Kutte ein feuchter dunkler Fleck. Otto wartete, bis Brun den Mist ausgespuckt und seinen Mund mit Wasser ausgespült hatte. Dann nahm er einen Pferdeapfel in die Hand und sagte: «Soll ich sie bestrafen? Soll ich sie das tun lassen, was sie von dir verlangt haben?»
    Als die Novizen das hörten, begannen sie vor Angst zu zittern. Brun gefiel der Gedanke durchaus, auf diese Weise Rache zu nehmen. Aber er war noch immer so verwirrt, dass er kein einziges Wort herausbrachte.
    «Dann entscheide ich für dich!», sagte Otto schließlich.
    Lachend schleuderte er den Pferdeapfel gegen die Bretterwand hinter den Novizen. Als ihnen klarwurde, dass sie noch einmal davonkamen, flohen sie wie Hasen. Sie belästigten Brun nie wieder. Einer der beiden war später sogar sein Freund geworden.
    Brun hatte gelernt, dass das Naheliegende nicht immer die beste Lösung war.
    Otto trat einen Schritt vom Fenster zurück und sagte: «Ich will die Krone – die Krone für mein Kaiserreich!»
    Sein Blick glitt von Wilhelm zu Brun und blieb an ihm haften.
    «Ich habe die Slawen und die Ungarn besiegt», sagte Otto. «Ich trage die Krone der Sachsen, bin Oberherr über das Königreich Burgund und habe größten Einfluss im westfränkischen und im dänischen Reich. Ich trage die goldene Lanze. Und ich werde Kaiser. Dafür muss ich eine Schlacht in der Lombardei schlagen – und gewinnen. Um jeden Preis! Dieser Graf, der der Sohn meines toten Halbbruders ist, bringt mir viele Soldaten. Wenn er mir hilft, den Sieg gegen Berengar zu erringen, ist er willkommen, und wenn er tapfer an meiner Seite kämpft, soll all das, was war, vergessen sein.»
    Dann drehte er sich um und ging zur Tür. Brun schaute dem König nach. Zum ersten Mal in seinem Leben war er überzeugt, dass sein Bruder einen Fehler beging.

60.
    Malina mochte die Dunkelheit nicht. Sie liebte die Sonne, die hellen, warmen Strahlen auf ihrer Haut, die ihre Sommersprossen aufblühen ließen. In dieser Nacht schien immerhin der Mond, als sie über den stillen Pfad ging. Er führte an den Fischteichen und Obstbäumen vorbei zu einer Tür in der Mauer, einem Hintereingang der Pfalanza.
    Der Mondschein und der Gedanke an die Münze, die sie ihrem Freier abgenommen hatte, zauberten Malina ein Lächeln auf die Lippen.
    Lachen!
    Das war ihre einzige Möglichkeit, um nicht unterzugehen in einem Leben, in

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