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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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verschlossen. Hakon drückte dagegen. Auf der anderen Seite klapperte ein Riegel.
    Fassungslos starrte Hakon auf die Bretter. Er konnte versuchen, sie einzutreten, würde dann jedoch riskieren, dass der Graf es hörte. Er machte kehrt.
    Unten sah er Malina zu ihm hinaufblicken und eine fragende Geste machen. Hakon schüttelte den Kopf. Sie ließ die Arme sinken.
    Bis zum nächsten Fenster ging es mindestens noch einmal zehn Fuß in die Höhe.
    Hakon massierte seine schmerzenden Finger und Zehen. Über dem Schacht ragte ein eiserner Haken aus dem Mauerwerk. Er holte Luft, zog sich an dem Haken hoch und machte sich an den Aufstieg. Halt suchen, linke Hand, rechte Hand, dann die Füße.
    Mit einem Mal spürte er ein Kribbeln im Nacken und drehte vorsichtig den Kopf. Er war mittlerweile so weit oben, dass er ins Atrium schauen konnte. Er sah die Menschenmenge im Hof und vor dem Portal die Blutmäntel, die von den Soldaten des Königs belauert wurden. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass nicht nur er sie, sondern natürlich auch sie ihn sehen konnten. Und sie hatten ihn gesehen, wie er da wie eine riesige Spinne an der Mauer klebte. Mehrere Soldaten zeigten zu ihm hinauf. Schon lösten sich einige von ihnen aus den Reihen und drängten durch die Menge zum Tor des Atriums.
    Er musste Malina warnen! So weit es ging, drehte er den Kopf. Malina schaute zu ihm hoch.
    «Lauf!», rief er. «Verschwinde!»
    Sie winkte ihm, machte eine Geste, als wolle sie ihm Mut machen. Sie verstand seine Worte nicht. Aber er konnte nicht lauter rufen, nicht in dieser Haltung. Er musste ihr ein Zeichen geben, sich irgendwie bemerkbar machen.
    Er kletterte weiter, zwang sich zu langsamen und überlegten Bewegungen. Nicht zu schnell! Noch ist Zeit. Die Soldaten müssen sich erst durch die Menge arbeiten. Das dauert. Dauert lange! Lange genug.
    Der nächste Fensterschacht tauchte über ihm auf.
    Er warf einen Blick über seine Schulter. Die Soldaten waren draußen, bogen gerade um die Ecke des Atriums. Malina hatte sie nicht bemerkt.
    Schnell weiter! Rechte Hand, linke Hand. Er fühlte den Rand des Schachts, ein letzter Zug, eine letzte große Anstrengung. Er zog sich hinein, drehte sich um und schaute nach unten.
    Die Soldaten waren hinter ihr, dreißig, vierzig Schritt vielleicht.
    Hakon rief ihren Namen. Der Wind, der verdammte Wind, brüllte ihn an, übertönte seine Worte, nahm sie mit und wehte sie davon.
    Sie winkte ihm wieder, und er sah sie lachen. Sie hörte die Soldaten nicht.
    Er gestikulierte, deutete auf die Männer hinter ihr. Es waren vier Soldaten. Drei hatten Schwerter gezogen, einer hielt einen Bogen in der Hand.
    «Lauf weg! Verschwinde!»
    Sie winkte ihm zu.
    Hakon ballte die Hände zu Fäusten. Er holte Luft, ganz tief, um zu schreien – so laut zu schreien, wie er nur konnte.
    Der Wind ebbte ab, legte eine kurze Pause ein. Jetzt!
    «Lauf! Malina! Lauf weg!»
    Es war zu spät.
    Sie erstarrte.
    Er sah, wie sie sich umdrehte, die Soldaten bemerkte, sich aber nicht rührte. Weil auch sie wusste, dass es zu spät war. Einer der Männer packte sie. Geistesgegenwärtig riss sie ein Knie hoch und rammte es dem Kerl in den Unterleib. Er krümmte sich vor Schmerzen. Sofort war ein anderer bei ihr und schlug zu. Die Faust krachte in ihr Gesicht. Sie taumelte, stolperte, ging zu Boden. Er setzte nach, holte mit dem Fuß aus und trat ihr in den Bauch.
    Hakon beobachtete das alles wie durch einen Schleier, der die Bilder vor seinen Augen verzerrte, sie noch unwirklicher machte, als sie ihm erschienen. Er wollte nicht wahrhaben, was geschah. Es war dasselbe Gefühl – dasselbe verdammte, hilflose Gefühl wie damals, als er Thora nicht beistehen konnte. Er fühlte sich nackt, nutzlos, so weit von ihr entfernt.
    Ein heiseres Krächzen drang an seine Ohren. Der Rabe saß auf dem Dach des Atriums. Erneut stieß er einen Laut aus, einen scharfen, warnenden Laut.
    Hakon drehte den Kopf. Etwas schoss an ihm vorbei, prallte gegen die Steine über ihm und fiel dann in den Schacht. Staub und Gesteinsbrocken rieselten herab.
    Der Bogenschütze! Er stand ein Stück abseits der anderen Soldaten. Sie hatten Malina auf die Füße geholt und schlugen auf sie ein. Dann sah Hakon den Bogenschützen einen neuen Pfeil auf die Sehne legen und den Bogen spannen.
    Ein letzter Blick auf Malina. Er konnte ihr nicht helfen. Er kroch rückwärts, tiefer in den Schacht. Auch der zweite Pfeil verfehlte sein Ziel.
    Hakon lehnte seinen Rücken gegen die kalten Steine,

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