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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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mehr.»
    Die Worte trafen Hakon wie ein Beilhieb.
    «Wer sagt das?», rief er. Seine Stimme hallte von den Wänden wider.
    Der Junge zuckte zusammen.
    Als Hakon näher kam, hörte er Thorleif sagen: «Doch, Eirik, das ist Hakon. Dein Vater.»
    «Aber Sigurd hat gesagt, meine Eltern seien tot.»
    Hakon griff nach Eiriks Hand, und als er in dessen Augen schaute, erkannte er darin Thora wieder. Ein heftiger Schmerz wallte in ihm auf, als sei eine alte Wunde aufgerissen.
    «Ich bin es … bin es wirklich.»
    «Bist du ein Krieger?», fragte Eirik.
    Er zeigte auf den Silberreif, den Hakon am rechten Handgelenk trug.
    Hakon nickte, streifte den Armreif ab und gab ihn dem Jungen. Eiriks Miene hellte sich auf.
    «Du kannst ihn behalten. Ich schenke ihn dir.»
    Ein zartes Lächeln huschte über Eiriks Lippen. «Bin ich jetzt auch ein Krieger?»
    Bevor Hakon etwas sagen konnte, bemerkte er eine Bewegung. Jemand kam aus dem Durchbruch und trat auf das Plateau.
    «Mutter!», rief Hakon.
    Bergljot kam auf ihn zu.
    «Endlich», sagte sie leise. «Jeden Tag und jede Nacht habe ich zu den Göttern gebetet, dass sie dich zurückbringen.»
    Hakon nahm seine Mutter in die Arme und drückte sie an sich. Er spürte ihre Knochen. Nach einem Moment löste sie sich aus seiner Umarmung. Ihr Gesicht war eingefallen. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Sie zitterte, als sie versuchte, ihre rechte Hand hinter ihrem Rücken zu verstecken. Doch Hakon hatte den blutgetränkten Verband bemerkt. Ihre Hand war geschwollen und blau verfärbt.
    «Was ist mit deiner Hand?», fragte er.
    «Nichts, es ist nichts.» Sie machte mit der Linken, an der der Ringfinger fehlte, eine wegwerfende Bewegung.
    «Hat der Graf …?»
    «Später! Wir reden später darüber.»
    Sie forderte ihn auf, ihr zu folgen, und verschwand in der Felsspalte.
    Hakon tauschte einen Blick mit Thorleif.
    «Dein Vater ist da drin», sagte der Alte.
    «Er wird mich hassen.»
    «Vermutlich. Wenn er dazu noch fähig ist.»
    «Es tut mir so leid …»
    «Es tut uns allen leid», fiel ihm Thorleif ins Wort und legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Was auch immer da drin geschehen wird, vergiss nicht, es sind letztlich immer die Götter, die die Entscheidungen treffen. Sie lenken die Geschicke der Welt, und wenn du dem Grafen die Urkunde gestohlen hast, um ihn herzuführen, war es ihr Wille.»
    «Ich wollte ihn nicht herführen!», stieß Hakon aus.
    Doch da hatte sich Thorleif bereits abgewandt und ging zu den anderen zurück.
    Gedanken rasten durch Hakons Kopf. Glaubten die Leute etwa, dass er den Grafen mit Absicht nach Hladir gelockt hatte? Glaubten sie das wirklich? Dann würden sie ihn hassen wie ihren schlimmsten Feind. Und sie hatten recht. Er hasste sich selbst dafür. Warum hatte er diese verdammte Urkunde hierhergebracht? Warum?
    Weil er Angst vor Sigurd hatte. Er hatte Angst gehabt, mit leeren Händen vor seinen Vater zu treten. Er hatte doch nicht geahnt, was er damit anrichten würde.
    «Hakon?»
    Eirik stand neben ihm und zupfte an seinem Ärmel. Der viel zu große Silberreif war bis auf seinen Ellenbogen gerutscht.
    Hakon rang sich ein Lächeln ab. «Lass uns zu Sigurd gehen.»
    «Ach, der schläft», entgegnete der Junge. «Weißt du, er schläft immer. Ich glaube, er wacht niemals wieder auf.»
     
    Hinter dem Plateau lag ein kleiner Raum, der von Kerzenflammen spärlich beleuchtet wurde. Im Jarlshaus hatte es immer einen großen Vorrat an Kerzen gegeben, die aus Wal- oder Robbentran hergestellt wurden und einen fürchterlichen Gestank verbreiteten. Offenbar hatten Hakons Eltern es irgendwie geschafft, einige davon mitzunehmen.
    In der Mitte der Höhle brannten auf einem großen, flachen Stein vier Kerzen. Sie warfen einen warmen Schimmer über den Mann, der regungslos auf dem Podest lag. Sigurds hagerer Körper war bis zur Brust mit einem dünnen Leinentuch bedeckt, unter dem sich seine Gliedmaßen hart und knöchern abzeichneten. Seine Augen waren geschlossen.
    Als Hakon sich seinem Vater näherte, lief Eirik voraus zu Bergljot, die hinter dem Podest stand. Eirik wollte ihr stolz den Armreif zeigen. Doch Bergljot legte den Zeigefinger ihrer linken Hand an die Lippen und bedeutete Eirik, still zu sein.
    «Wie geht es ihm?», fragte Hakon leise.
    Bergljot senkte den Blick.
    Er darf nicht tot sein, schoss es Hakon durch den Kopf. Er musste seinem Vater sagen, dass er das alles nicht gewollt hatte. Es war keine Absicht! Er wollte doch nur, dass Sigurd ihm verzieh –

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