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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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gefangenen Hasen, Hamstern und Mäusen waren ihre Vorräte zwar nicht üppig, aber sie reichten aus, um nicht zu verhungern und den Winter zu besiegen.
    Der Mönch schaute zur Höhle zurück, überzeugte sich, dass Velva sie tatsächlich nicht beobachtete, und marschierte dann über die Lichtung davon. Aki folgte ihm. Er freute sich darauf, endlich wieder zu lesen und zu schreiben. In den Wintermonaten hatte es nur wenige Gelegenheiten dazu gegeben, und Aki hatte jedes Mal begierig darauf gewartet, seine Fähigkeiten endlich weiter zu verbessern.
    Zu Ketils Überraschung machte Aki schnell Fortschritte. Der Mönch war voll des Lobes. In wenigen Monaten hatte Aki das gelernt, wofür andere Jahre brauchten. Ketil selbst empfand das Lernen als Tortur. Im Kloster habe er viele Novizen erlebt, die sich damit herumplagten, und nicht einer von ihnen habe so zügig die Laute der Buchstaben und die Bedeutung der Wörter verstanden.
    Das Versteck befand sich nicht weit von der Höhle entfernt unter einem mit Moos bewachsenen Steinhaufen. Ketil wollte das Buch gerade hervorholen, als er zurückzuckte und einen erstickten Laut ausstieß.
    «Könntest du bitte das Buch herausnehmen? Ähm … meine Finger sind ganz steifgefroren.»
    Aber der Grund für Ketils Zögern war ein ganz anderer: Oben auf einem Stein saß eine Spinne, die kaum größer als ein Daumennagel war. Aki grinste innerlich. Ketil war der mit Abstand stärkste Mann, dem er je begegnet war, vor Spinnen hatte dieser Riese jedoch eine geradezu panische Angst. Zugeben würde er diese Schwäche natürlich niemals.
    Da Aki seinen Freund nicht in Verlegenheit bringen wollte, wischte er die Spinne mit einem Handstreich weg, rollte den Stein zur Seite und holte darunter die Tasche mit dem Buch hervor.
    Ganz in der Nähe ließen sie sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder. Aki gab Ketil das Buch und fischte aus der Tasche die Schreibsachen: einige an den Spitzen angekohlte Holzspäne sowie ein Stück dünne Birkenrinde, die wegen ihrer Ebenmäßigkeit als Schreibunterlage geeignet war. Unterdessen suchte Ketil in den heiligen Schriften nach der Stelle, an der sie ihre Übungen unterbrochen hatten.
    «Also», meinte Ketil schließlich, «schreib das auf: ‹Wer Unrecht sät, wird Unheil ernten, und die Rute seines Übermuts wird ein Ende nehmen.›»
    «Den Satz hatten wir schon», entgegnete Aki.
    «Wirklich? Daran kannst du dich noch erinnern? Gut, dann diesen Satz: ‹Die Lippen der Gerechten weiden viele, aber die Toren sterben durch Unverstand.›»
    Die Worte waren in einer Sprache verfasst, die man Latein nannte. Während Aki begann, sie auf die Rinde zu schreiben, erklärte Ketil, dass diese Weisheiten von einem alten König namens Salomon stammten. Als Aki den Satz niedergeschrieben hatte, reichte er Ketil die Rinde. Bei der Überprüfung schaute der in dem Buch nach, als ob er sich selbst nicht ganz sicher sei.
    «Gut gemacht», lobte Ketil schließlich. «Kaum Fehler.»
    «Wie viele denn?»
    «So etwa drei oder vier.»
    «Kannst du es nicht genauer sagen?»
    «Nein, ich …»
    Ketil verstummte. Irgendwo knackte ein Ast, dann noch einer. Hatte Velva die Höhle doch verlassen? Aki ließ die Holzstückchen hinter den Baumstamm fallen und die Rinde unter seinem Mantel verschwinden. Ketil tat dasselbe mit dem Buch. Velva durfte nichts von Akis Übungen wissen. Schließlich hatte sie von Ketil verlangt, die heiligen Schriften von Aki fernzuhalten. Ja, geradezu befohlen hatte sie das.
    Aber es war nicht Velva, sondern Asny, die aus dem Unterholz auftauchte. Da der Bach wieder eisfrei war, hatte sie gestern Abend nach langer Zeit die Angeln auslegen können. Offensichtlich mit Erfolg. Stolz zeigte sie ihren Fang, einen Hecht, der nach dem langen Winter zwar nicht besonders fett, dafür aber fast so lang wie ihr Arm war.
    Ketil und Aki klatschten begeistert in die Hände.
    «Ich dachte, du hättest längst alle Hechte rausgefangen», sagte Aki.
    «Anscheinend ist doch noch einer übrig geblieben», erwiderte Asny lachend.
    «Ja, und der hat dir offensichtlich alles abverlangt.»
    Asnys Fellmantel war mit Schlamm beschmiert. «Immerhin bin ich nicht ins Wasser gefallen, Bruder!», sagte sie.
    Aki verdrehte mit gespielter Entrüstung die Augen. Im vergangenen Frühjahr war er beim Versuch, einen Hecht ans Ufer zu ziehen, in den Bach gestürzt. Er hatte Asny beweisen wollen, dass er der bessere Angler war. Doch er hatte sich vollkommen verschätzt und den Halt

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