Das Lied des Todes
verfolgen. Auf halber Strecke hielten wir an und sahen das Jarlshaus brennen. Am nächsten Morgen beobachteten wir aus den Bergen, wie sie alle Sachen von Wert auf ihre Schiffe brachten und in der ganzen Stadt Feuer legten. Dann stachen sie in See. Wir blieben oben. Haben uns verkrochen, aus Angst, sie könnten zurückkehren.»
«Wann war das?», fragte Hakon.
Er überlegte, warum sie dem Grafen nicht begegnet waren. Aber dann dachte er, dass der Graf vermutlich den inneren Seeweg gewählt hatte, während der Wellenspalter auf dem äußeren Weg jenseits der Inseln und Schären gen Norden gesegelt war.
«Vor drei oder vier Tagen. Oder waren es fünf Tage?», sagte Thorleif.
Die Frage war an den Jungen gerichtet.
«Vor fünf Tagen», antwortete der Knabe.
Thorleif nickte. «Dann waren es also fünf. Danke, mein Junge. Er heißt Halli und ist ein schlauer Kerl. Er erinnert mich an dich, Hakon, als du jung warst. Deshalb habe ich ihn mit zur Stadt runtergenommen. Wir haben nichts mehr zu essen …»
«Wir haben Brot und Trockenfisch vom Schiff mitgebracht», sagte Hakon.
Einige der Seeleute zeigten die mit Proviant gefüllten Beutel. Dann setzten sie ihren Marsch durch den Schnee fort. Der Alte ging, flankiert von zwei Fackelträgern, voran.
Hakon hatte längst die Orientierung verloren. Zu lange war er nicht mehr in den Bergen gewesen. Eine Zeitlang war er überzeugt, dass sie dem Pfad zum Tempel folgten. Dann hatte Thorleif mehrfach die Richtung gewechselt und sie über Gelände, das von gewaltigen Gesteinsbrocken übersät war, und durch tiefe Schluchten geführt. Mal ragten zu beiden Seiten des Weges schroffe Kanten auf. Dann ging es an Schluchten vorbei, deren Tiefe man nur erahnen konnte.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Thorleif endlich verkündete, man habe das Ziel erreicht. Die Gruppe kam zum Stehen.
Der Alte und Halli knieten sich am Fuß einer Felswand zwischen große Steine und waren dann so plötzlich verschwunden, als habe der Berg sie verschluckt.
Hakon ließ sich eine Fackel geben und ging zu der Stelle. Im Gestein klaffte ein etwa vier Fuß hohes und ebenso breites Loch.
War dies der Eingang zu der Höhle, von der Thorleif ihm früher einmal erzählt hatte?
Die Geschichte hatte von Zwergen gehandelt, die tief unten im Gestein lebten, wo sie die Waffen und Kleinode der Götter schmiedeten. Odins Speer und Thors Hammer gehörten ebenso dazu wie Freyjas Halsband und die Kette des Fenriswolfes.
Thorleif erschien wieder in der Öffnung. Er forderte die anderen auf, ihm zu folgen. Auf allen vieren krochen Hakon und die Wikinger durch einen Gang, der zunächst ein gutes Stück geradeaus führte. Dann weitete er sich und mündete schließlich in einer mindestens dreißig Fuß hohen, von Fackeln erhellten Halle. Die stickige Luft stank nach Schweiß und Fäkalien.
Dutzende Gesichter wandten sich ihnen zu, als erst Thorleif, dann Hakon und Pálnir und schließlich die anderen Seeräuber in die Halle drängten. In den Blicken der ausgemergelten, am Boden sitzenden Gestalten lagen Angst und Verunsicherung. Hakon sah vor allem ältere Männer und nur wenige junge Frauen. Kinder gab es kaum.
Er schaute sich nach Eirik um, konnte aber nirgends einen Jungen in seinem Alter entdecken. Er war sich nicht sicher, ob er seinen Sohn überhaupt wiedererkennen würde, selbst wenn er direkt vor ihm stünde.
Unterdessen hatten Pálnir und die anderen Krieger damit begonnen, den Proviant zu verteilen. Als die Menschen dies sahen, verloren sie ihre Scheu und rissen den Ankömmlingen das Essen aus den Händen.
Hakon bat Thorleif, ihn zu seiner Familie zu bringen. Der Alte lotste ihn durch die Menschenmenge bis zur hinteren Höhlenwand, an der Felsvorsprünge wie eine Treppe nach oben führten. Thorleif kletterte voran, bis sie in einer Höhe von etwa zehn Fuß über dem Höhlenboden auf ein Plateau kamen.
Mit der Fackel leuchtete Hakon die im Schatten liegende Fläche ab und entdeckte einen schmalen Durchbruch in der Felswand.
Davor hockte auf einem Stein ein blasser Junge.
«Eirik?», fragte Hakon.
Der Junge starrte ihn nur an.
«Eirik, bist du das?», fragte Hakon erneut.
Als der Junge noch immer nicht antwortete, ging Thorleif zu ihm, kniete nieder und unterhielt sich leise mit ihm. Hakon konnte mehrfach das Wort
feðgar
verstehen, der Begriff für Vater und Sohn. Der Junge ließ Hakon nicht aus den Augen.
Schließlich schüttelte der Junge den Kopf und sagte: «Ich habe keinen Vater
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