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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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sie alle tot.
    «Fangen wir an!», sagte Hakon.
    Doch als er in das Gewirr verkohlter Balken und Bretter steigen wollte, hörte er plötzlich Rufe aus Richtung der Mauer. Er drehte sich um und sah drei der Männer, die auf dem Weg in die Stadt gewesen waren, zurück auf den Jarlshof kommen. Sie hatten zwei Leute in ihre Mitte genommen, einen alten Mann und einen Knaben.
    Im ersten Augenblick glaubte Hakon, bei dem Knaben könne es sich um Eirik handeln. Er stellte jedoch sogleich enttäuscht fest, dass der Knabe zu alt war, vielleicht zehn oder elf Jahre. Aber den Alten erkannte er sofort: Es war Thorleif.
    Hakons Herz begann zu rasen. Es gab doch Überlebende!

34.
    Die Dämmerung setzte ein. Thorleif und der Junge führten die Wikinger über schneebedeckte Pfade immer höher hinauf in die Berge, und Thorleif berichtete, was geschehen war. Der Graf war tatsächlich wegen der Urkunde nach Hladir gekommen. Mit Bergljots Hilfe hatte er das Schriftstück im Tempel gefunden. Die Menschen von Hladir waren daraufhin erleichtert gewesen. Sie glaubten, Thankmar würde sein Versprechen halten und wieder abziehen.
    «Wir hatten sein Wort», sagte Thorleif mit dünner Stimme, als sie hinter einer Felswand, die ein wenig Schutz vor dem Schnee bot, eine Pause einlegten. «Er hatte zugesagt, niemanden zu töten, wenn er das verdammte Pergament wiederfinden würde.»
    Thorleif war völlig außer Atmen. Er war ein Greis geworden, ein alter, vom Tode gezeichneter Mann, nur noch Haut und Knochen. Das lange, weiße Haar fiel ihm aus. Seine Lippen waren aufgeplatzt, sein Gesicht war mit Schürfwunden und Ekzemen übersät.
    «Aber das Wort dieses Bastards ist weniger wert als der Dreck unter meinen Fingernägeln», fuhr Thorleif fort. «Anstatt uns in Frieden zu lassen, haben die Soldaten mit den roten Mänteln und die Dänen unsere Leute aus ihren Häusern geholt. Sie haben sie auf den Jarlshof und ins Haus deines Vaters getrieben. Es waren so viele, dass die Ersten schon erstickten, während die Soldaten immer weitere hineinzwängten …»
    Hakon konnte nicht mehr an sich halten. «Was ist mit Sigurd? Und was mit Bergljot und Eirik?»
    «Sie leben», erwiderte Thorleif. «Eirik ist gesund. Auch Bergljot, aber sie ist schwach. Wie es Sigurd geht, weiß ich nicht. Nur, dass er noch am Leben ist. Deine Mutter hält ihn von allen anderen fern.»
    Hakon atmete auf. Sie lebten, wenigstens das. «Aber warum habt ihr das alles geschehen lassen? Warum habt ihr euch nicht gewehrt?»
    «Gewehrt?», rief Thorleif aufgebracht. Ein Hustenanfall überkam ihn, und es dauerte einen Moment, bis er weitersprechen konnte.
    «O ja, einige haben sich gewehrt», sagte er dann. «Das haben sie wirklich getan – im Angesicht des Todes. Wir wussten alle, was man mit uns vorhatte. ‹Brenna! Brenna!›, haben die Sachsen und Dänen gerufen und dabei gelacht. Sie haben jeden, der sich weigerte, ins Haus zu gehen, abgeschlachtet wie Vieh.»
    Hakon biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Er war erleichtert, dass es inzwischen fast dunkel und seine Trauer für die anderen nicht zu sehen war.
    «Dennoch gelang einigen die Flucht», fuhr Thorleif fort. «Es waren diejenigen, die zum Schluss ins Haus gehen sollten. Der Graf wollte, dass wir – deine Mutter, dein Sohn, dein Vater, die anderen Stadtoberhäupter und ihre Familien – zusahen, was er tat. Er wollte unsere Angst genießen. Wollte sich daran weiden.»
    Thorleif stockte. Die Erinnerung machte ihm zu schaffen.
    Hakon, Pálnir und die anderen Seeräuber standen dicht gedrängt um den Alten und den Knaben. Einige Männer hielten brennende Fackeln, die sie vor dem Abmarsch vom Wellenspalter geholt hatten. Der Wind heulte in den Bergen und ließ die Flammen flackern.
    «Es gab Streit zwischen den Dänen und den Sachsen», erzählte Thorleif. «Ich weiß nicht, warum sie aneinandergerieten. Vielleicht ging es um die Aufteilung der Beute. Viele Männer waren betrunken. Als sie begannen, mit Waffen aufeinander loszugehen, haben wir die Gelegenheit ergriffen und sind geflohen. Und haben die anderen ihrem Schicksal überlassen.»
    Die Fackeln warfen zuckende Schatten über das Gesicht des Alten, das so fahl war wie das eines Toten.
    «Wir hätten nichts mehr für sie tun können», sagte er flehentlich, als wolle er seine Zuhörer um Vergebung bitten. «Etwa hundert von uns gelang die Flucht. Wir rannten in die Berge. Unten bei Hladir hatte es noch nicht geschneit. Sie konnten unsere Spuren nicht

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