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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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ihn wieder aufnahm. Als seinen Sohn.
    Er kniete neben Sigurd nieder. Das Gesicht seines Vaters wirkte wie in Stein gemeißelt. Die Falten um Augen und Mund hatten einen verbitterten, zornigen Zug angenommen. Der Oberkörper war von einer blutverkrusteten Wunde gezeichnet, die von einem Schwert zu stammen schien. Wahrscheinlich war er bei der Flucht verletzt worden.
    Als Hakon sich über Sigurd beugte, merkte er, dass sich die Brust leicht hob und senkte.
    «Vater», flüsterte Hakon. «Vater, kannst du mich hören?»
    Da schlug Sigurd mit einem Mal die Augen auf. Seine Hände fuhren wie Klauen unter dem Tuch empor nach Hakons Hals. Der alte Mann mochte auf der Schwelle zum Tode stehen, aber sein Griff war hart und fest. Hakon war so überrascht, dass er außerstande war, sich aus dem Würgegriff zu befreien.
    Sigurd bäumte sich auf und zog Hakon zu sich.
    «Nicht die Götter», stieß Sigurd aus. «Du bist schuld!»
    «Nein, Vater», keuchte Hakon.
    Er wagte nicht, sich gegen Sigurd zu wehren.
    «Ich bin nicht mehr dein Vater», zischte der Jarl. «Und du bist nicht mehr mein Sohn!»
    Der Griff um Hakons Hals lockerte sich. Die Hände fielen zurück auf das Podest. Sigurds Kopf sackte zur Seite, und es wurde totenstill in der Höhle.

[zur Inhaltsübersicht]
    Teil III
    Im Jahr des Herrn 961

35.
    Es begann zu tauen.
    Früh am Morgen krochen Aki und Ketil unter den Decken aus Otter- und Dachsfell hervor und schlichen aus der Höhle. Velva schlief noch, und Asny war bereits fortgegangen, um die Hechtfallen zu kontrollieren.
    Aki stapfte hinter den Erdhügel, wo der Schnee noch nicht geschmolzen war. Er kniete nieder, nahm eine Handvoll Schnee und presste ihn so fest zusammen, bis die Kugel hart war wie Eis. Sie lag gut in der Hand und war leichter als ein Stein.
    Ketil zeigte auf die Trolleiche bei Gydas Grab.
    «Wenn du den untersten Ast verfehlst, wovon ich ausgehe, sagst du zehn Vaterunser auf», meinte Ketil und grinste breit.
    «Und wenn ich treffe?», erwiderte Aki.
    «Dann bade ich nackt im Schnee.»
    «Den Anblick willst du uns zumuten?»
    «Nein. Weder euch noch die Tiere im Wald werde ich mit meinem Körper erfreuen. Du hast den Mund etwas zu voll genommen, junger Mann. Niemand trifft auf diese Entfernung.»
    Aki lachte leise. «Ich schon.»
    Ketil hob die Augenbrauen. «Ganz schön vorlaut am frühen Morgen. Also gut, wie wär’s dann mit der Astgabel da, die aussieht wie eine Hand?»
    Aki zuckte beiläufig mit den Schultern. Er stellte sich in Position und visierte die Trolleiche am Rande der Lichtung an. Ein ungeübter Werfer hätte schon Schwierigkeiten gehabt, überhaupt so weit zu kommen, geschweige denn die Astgabel zu treffen. Aber Aki war ein hervorragender Werfer, auch wenn er sich eingestehen musste, dass diese Entfernung auch für ihn eine Herausforderung darstellte.
    Er schloss die Augen, atmete tief ein und langsam wieder aus. Dann öffnete er sie wieder, hob den Schneeball auf Schulterhöhe, zielte – und warf. Er traf so hart, dass der Schneeball zerplatzte und die hin- und herschwingende Astgabel aussah, als würde der Troll ihnen winken.
    Ketil stieß einen Seufzer aus.
    «Ich mache dir einen Vorschlag», sagte Aki. «Ich erlasse dir das Nacktbad. Stattdessen lässt du mich endlich einmal wieder ein paar Sätze aus deinem Buch abschreiben, ja?»
    Der Vorschlag schien Ketil nicht zu gefallen. «Ich weiß nicht recht. Deine Mutter könnte es mitbekommen.»
    «Das wird sie nicht», entgegnete Aki.
    Velva hatte den ganzen Winter in der Höhle verbracht. Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?
    Wenige Tage, nachdem Aki und Ketil vom Markt am Danewerk zurückgekehrt waren, hatte es zu schneien begonnen. Es wurde, wie von Velva prophezeit, ein so harter, eiskalter Winter, dass sie in der Höhle mehrfach einschneiten. Von Akis Einkäufen waren lediglich ein paar getrocknete Fische und ein halber Sack Roggen geblieben, nachdem Ketil die beiden Soldaten getötet und den Hauptmann in die Flucht geschlagen hatte. Aki hatte damals tiefe Dankbarkeit empfunden, weil Ketil ihn nicht im Stich gelassen hatte. Sie waren Freunde geworden, echte Freunde.
    Auch in den harten Wintermonaten war es für Velva und ihre Kinder ein großer Vorteil gewesen, den Isländer an ihrer Seite zu haben. Als alles aufgegessen war, hätten sie sich von Kleintieren, Flechten und Baumrinde ernähren müssen. Ketil war es jedoch gelungen, mit bloßen Händen ein Wildschwein zu erlegen. Zusammen mit den von Aki und Asny

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