Das Lied des Todes
Vater.
Aber warum hatte der Graf das getan? Weil …
Bei den Göttern!
Hakon dachte den Gedanken zu Ende. Die Erkenntnis zog ihm den Boden unter den Füßen weg und ließ ihn in das tiefste Loch dieser Welt stürzen. Weil er selbst den Grafen hergelockt hatte!
Er hatte die Urkunde aus der Schatulle genommen und dafür den Holzspan hineingelegt. Ein Zeichen hatte er dem Grafen damit geben wollen. Es sollte eine Drohung sein, dass Hakon nicht ruhen würde, bis er Thoras Mörder getötet haben würde. Stattdessen war der Mörder erneut nach Hladir gekommen.
Hakon taumelte, seine Knie knickten ein, und er fiel in den Schnee.
Warum hatten die Svea ihn nicht getötet? Warum hatte das Mädchen ihm nicht die Kehle aufgeschnitten? Dann hätte er alles hinter sich gehabt. Hätte das nicht ertragen müssen.
Wie aus weiter Ferne hörte er Stimmen. Er spürte, wie ihm jemand erst ins Gesicht schlug und dann Schnee auf seine Stirn rieb. Hände packten ihn, schüttelten ihn, versuchten, ihn aufzurichten.
Er öffnete die Augen und blickte in Pálnirs ernstes Gesicht. Diese schaute ihn lange an. Erst als er überzeugt war, dass Hakon wieder selbständig stehen konnte, ließ er ihn los.
Um sie herum stand die Mannschaft des Wellenspalters. Die Männer, mit denen er zur See gefahren war. Grobe Kerle, mutige Krieger, stark und furchtlos, die ihre Hände vielfach mit Blut besudelt hatten. Nun hatte auch sie das Entsetzen gepackt und das Grauen sich tief in ihre Gesichter gegraben.
So etwas hatte noch niemand von ihnen gesehen.
Pálnir stieß ein tiefes Stöhnen aus. Dann sagte er ein einziges Wort, und alle anderen nickten stumm.
«Brenna!»
Brenna. So nannte man es, wenn Menschen in ein Gebäude getrieben wurden, an das man Feuer legte. So etwas kam immer wieder vor. Allein die Tatsache, dass in Hladir Menschen bei lebendigem Leib verbrannt worden waren, hätte wohl nicht für ein solches Entsetzen unter den Wikingern gesorgt. Der Tod war ihr ständiger Begleiter. Nein, es war die schiere Menge an Menschen, die auf so grausame Weise in der großen Halle des Jarlshauses ihr Ende gefunden hatten. Es mussten Hunderte sein, die man hineingezwängt hatte und deren Körper bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und verkohlt waren. Die im Todeskampf zu einer einzigen Masse zusammengeschmolzen waren.
«Brenna», sagte Pálnir noch einmal und schluckte schwer. «Wer so etwas tut, trägt den Hass tief in seinem Herzen.»
«Ich hätte es verhindern können», flüsterte Hakon.
Es waren seine ersten Worte an diesem Tag.
Pálnir warf ihm einen fragenden Blick zu. Doch er ging nicht auf Hakons Selbstvorwurf ein.
«Ob dein Sohn auch darunter ist?», fragte er stattdessen.
Hakon wischte sich mit der schneekalten Hand übers Gesicht. «Ich werde es herausfinden.»
«Wie?»
«Indem ich die Trümmer abtrage und jeden Toten bestatten werde. Wenn Eirik dabei ist, werde ich ihn erkennen.»
Pálnir warf ihm einen zweifelnden Blick zu, sagte dann aber: «Ich helfe dir dabei.»
Er wandte sich an die Umstehenden. «Und ihr werdet Hakon dabei zur Hand gehen.»
«Vielleicht sollten wir uns erst einmal eine Unterkunft bauen», warf einer ein. «Wie es aussieht, werden wir hier wohl den Winter verbringen müssen.»
«Ja», sagte Pálnir.
Er teilte die Männer ein. Nach dem misslungenen Überfall auf den Sveahof waren sie noch einunddreißig. Pálnir bestimmte zehn, die in den Überresten der Häuser nach Baumaterialien suchen sollten. Damit sollten sie eine Hütte errichten. Die übrigen Männer würden bei den Leichen mit anpacken.
Dann trat Pálnir wieder neben Hakon, der noch immer wie festgefroren dastand, den Blick starr auf die menschlichen Überreste unter dem Trümmerberg gerichtet. Pálnir wollte etwas zu ihm sagen, doch er brachte nichts heraus.
Hakon war in seinen Gedanken bei dem Tag, an dem er Eirik das erste Mal in den Händen gehalten hatte. Bergljot ließ ihn holen, nachdem Thora den Jungen zur Welt gebracht hatte. Ein kleines Bündel Mensch war Eirik gewesen, ganz verschmiert und rot angelaufen von den Anstrengungen der Geburt. Bergljot überreichte Hakon seinen Sohn, und er hatte ihm einen Klaps auf den Hintern gegeben, damit er zu schreien begann. Als er es endlich tat, war dies für Hakon der schönste Laut, den er jemals gehört hatte. Thora lächelte sie beide so süß an, wie es keine andere Frau auf dieser Welt vermochte. Auch Sigurd stand am Bett. Er war sichtlich stolz gewesen auf Hakon, seinen Sohn.
Nun waren
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