Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
konnte alles hinter sich lassen. Bis zum nächsten Vollmond wäre er wieder bei seinen Brüdern auf Winterfell.
Deinen Halbbrüdern, erinnerte ihn eine innere Stimme. Und bei Lady Stark, die dich nicht willkommen heißen wird. Für ihn war kein Platz auf Winterfell und auch kein Platz in Königsmund. Nicht einmal seine eigene Mutter hatte ihn gewollt. Der Gedanke an sie stimmte ihn traurig. Er fragte sich, wer sie gewesen sein mochte, wie sie ausgesehen hatte, warum sein Vater sie verlassen hatte. Weil sie eine Hure oder eine Ehebrecherin war, Dummkopf! Etwas Finsteres und Unehrenhaftes, denn warum sonst sollte sich Lord Eddard schämen, von ihr zu sprechen?
Jon Schnee wandte sich vom Königsweg ab und blickte sich um. Die Feuer der Schwarzen Festung waren hinter einem Hügel verborgen, doch die Mauer war zu sehen, schimmerte blass unter dem Mond, endlos und kalt, von Horizont zu Horizont.
Er riss sein Pferd herum und ritt nach Hause.
Geist kehrte zurück, als er auf eine Anhöhe kam und den fernen Glanz vom Lampenschein im Turm des Lord Kommandanten sah. Die Schnauze des Schattenwolfes war rot von Blut, während er neben dem Pferd hertrottete. Jon merkte auf dem Rückweg, dass er schon wieder an Samwell Tarly dachte. Als er zu den Ställen kam, wusste er, was er zu tun hatte.
Maester Aemons Gemächer befanden sich in einem stabilen, hölzernen Bau unter dem Krähenhorst. Alt und gebrechlich,
wie er war, teilte der Maester seine Kammern mit zwei der jüngeren Kämmerer, die sich um seine Bedürfnisse kümmerten und ihm bei seinen Pflichten halfen. Die Brüder scherzten, man habe ihm die zwei hässlichsten Männer der Nachtwache gegeben. Da er blind war, blieb ihm der Anblick der beiden erspart. Klydas war klein, kahl und kinnlos und hatte kleine, hellrote Augen wie ein Maulwurf. Chett hatte eine Geschwulst von der Größe eines Taubeneis am Hals, und sein Gesicht war gerötet von Pickeln und Furunkeln. Vielleicht wirkte er aus diesem Grund stets so zornig.
Chett öffnete auf Jons Klopfen hin. »Ich muss mit Maester Aemon sprechen«, erklärte Jon.
»Der Maester ist im Bett, wo auch du sein solltest. Komm am Morgen wieder, und vielleicht empfängt er dich.« Schon wollte er die Tür schließen.
Jon hielt sie mit dem Fuß offen. »Ich muss jetzt mit ihm sprechen. Morgen früh ist es zu spät.«
Chett zog ein finsteres Gesicht. »Der Maester ist es nicht gewohnt, mitten in der Nacht gestört zu werden. Weißt du, wie alt er ist?«
»Alt genug, Besuchern mit mehr Höflichkeit zu begegnen als Ihr«, sagte Jon. »Bittet ihn in meinem Namen um Verzeihung. Ich würde seine Nachtruhe nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Jon hatte seinen Stiefel fest in die Tür geklemmt. »Ich kann hier die ganze Nacht stehen, wenn es sein muss.«
Der schwarze Bruder gab ein angewidertes Grunzen von sich und öffnete die Tür, um ihn hereinzulassen. »Warte in der Bibliothek. Dort ist Holz. Mach Feuer. Ich werde nicht zulassen, dass sich der Maester deinetwegen erkältet.«
Schon knisterten die Scheite fröhlich, da führte Chett Maester Aemon herein. Der alte Mann trug sein Schlafgewand,
doch um seinen Hals lag die Münzkette seines Ordens. »Der Stuhl am Feuer wäre mir angenehm«, sagte er, als er die Wärme in seinem Gesicht spürte. Als er bequem saß, bedeckte Chett seine Beine mit einem Fell und stellte sich an die Tür.
»Es tut mir leid, dass ich Euch geweckt habe, Maester«, sagte Jon Schnee.
»Du hast mich nicht geweckt«, erwiderte Maester Aemon. »Ich benötige immer weniger Schlaf, je älter ich werde, und ich bin schon sehr alt. Oft verbringe ich die halbe Nacht mit Gespenstern der Vergangenheit und erinnere mich an Zeiten vor fünfzig Jahren, als wäre es gestern erst gewesen. Das Mysterium eines mitternächtlichen Besuchers ist eine willkommene Abwechslung. Nun sag mir, Jon Schnee, warum besuchst du mich zu dieser ungewohnten Stunde?«
»Um darum zu bitten, dass Samwell Tarly von der Ausbildung befreit und als Bruder der Nachtwache aufgenommen wird.«
»Das ist nicht Sache Maester Aemons«, beschwerte sich Chett.
»Unser Lord Kommandant hat die Ausbildung der Rekruten in die Hände von Ser Allisar Thorn gelegt«, erklärte der Maester gütig. »Nur er entscheidet, wann ein Junge bereit ist, seinen Eid abzulegen, wie du sicher weißt. Warum kommst du mit diesem Anliegen zu mir?«
»Der Lord Kommandant hört auf Euch«, erklärte Jon. »Und die Verwundeten und Kranken
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