Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
des Lords schwirrten. ›Was war denn das für ein dicker, undurchdringlicher Nebel? Sang hier denn jeder sein eigenes Lied?‹
Er sollte sich schleunigst um ein paar Antworten aus erster Hand bemühen - aus eigener Hand.
Der Night Captain stand an der Mündung einer Einkaufspassage, zwischen zwei opulenten Säulen im griechischen Stil, die auf den dreieckigen Platz des Gänsemarktes führte. Nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Es wurde dunkel, Schnee fiel, die Leute machten sich auf den Weg nach Hause oder zu den Untergrund- und Stadtbahnen, die sie zu den entfernteren Stadtteilen bringen würden. Die ersten Geschäfte ließen die Gitter herunter, verriegelten Ladentüren, hängten Schilder in die Schaufenster, dass ab jetzt geschlossen war. Es war ein nobles Viertel, gesäumt von hohen, vielstöckigen Prachtbauten, viele noch aus dem Mittelalter, von deren Dächern die Fahne Hammaburgs und des Nordischen Feuerbundes herabhingen. Hätte auch nur eine Fahne gefehlt, konnte man sich reichlich Ärger einhandeln. Dort, wo auch ausländische Besucher unterwegs waren, war es Pflicht, seinen Patriotismus zu zeigen.
In der Mitte des Platzes hatte man dem Dramaturgen Lessing eine flotte Statue gebaut, die nachdenklich sitzend und mit einem Büchlein in der Hand auf die vorbeihuschenden Passanten blickte. Am Podest dieser grün angelaufenen Figur lehnten drei Rabenmänner und machten den Leuten Angst, so dass diese eilig das Weite suchten. Sie wedelten mit ihren schwarzen Umhängen und machten Krah-Krah-Geräusche mit ihren Schnabelmasken, wirklich sehr einfallsreich.
Taris hockte oben auf einem der Giebel, die mit hölzernen Tierköpfen verziert waren. Skee blieb unsichtbar, war aber anwesend und Poe beschwerte sich aus dem Kragen heraus, dass ihm Schnee auf die Nase fiel.
Der Night Captain war verkleidet. Er trug einen langen, lindgrünen Umhang über seinem Captainsmantel, der Dreispitz steckte zusammengefaltet in einer Seitentasche desselben. Ein mittelmäßiger Zylinder auf dem Kopf, ein paar Handschuhe, ein Spazierstock. Dazu ein langes Seil, aufgerollt am Gürtel, der Revolver einsatzbereit, ein Messer mit doppelschneidiger Klinge ohne Firlefanz, sowie eine Nachtsichtlinse. Ein Minischeinwerfer, der blaues Licht abgab, war vorn an den mechanischen Arm montiert.
Das trübe Licht der Laternen, die ebenfalls in einem Dreieck den Platz umstanden, ließ helle Lichtteiche auf dem Schnee zurück, der von hunderten von Fußspuren durchkreuzt war. Immer mehr Geschäfte löschten die Beleuchtung, so wurde es mit jeder Minute dunkler.
Eine Frau ging an dem Night Captain vorbei, der sie erkannte und ihr nachsah. Er wusste, dass sie genau zwei Hausnummern neben Jakob Rothmanns Laden wohnte, denn er hatte sie eine Stunde zuvor aus dem benachbarten Eingang heraustreten sehen, mit einem kleinen Weidenkorb unter dem Arm, der ihm sagte, dass sie nur schnell noch etwas besorgen wollte. Sie beschleunigte ihre Schritte, denn ihr Haus stand nahe an der Statue und somit an den Rabenmännern. Doch diese blickten nur kurz auf, widmeten sich wieder anderen Passanten. Offensichtlich waren sie angehalten worden die betuchten Kaufleute, die hier wohnten, nicht zu behelligen.
Der Night Captain beobachtete, wie die Frau im Eingang verschwand, die Tür schwang auf, fiel wieder zurück, schlug zu. Er wartete noch fünf Minuten, dann setzte auch er sich in Bewegung. Er hatte einen leicht schiefen Gang, der Spazierstock stach durch den Schnee und klang hart auf dem Pflaster darunter. Die Rabenmänner nahmen Maß, doch sie blieben sitzen, als sie merkten, dass er ebenfalls auf das benachbarte Haus zustrebte. Der Captain klapperte mit einem Schlüssel herum, stellte sich vor die schwere Holztür und tat so, als würde er sie aufschließen. In Wahrheit war die Tür nicht zugefallen, denn Skee hockte in der Zarge und ließ den Bolzen nicht einrasten. Er trat in den dunklen Flur, die Tür rastete diesmal wirklich ein. Ein leises Lob an den Clangeist, der sich sofort nach oben aufmachte.
Der Captain setzte die Nachtlinse auf. Sofort bekam das düstere Treppenhaus Konturen. Er kniete sich hin und aktivierte die Labyrinthe in seinen Stiefeln. Dann machte er sich auf, die Treppen zu erklimmen, die grünlich, aber deutlich sichtbar zu erkennen waren. Nicht ein Laut hallte in dem Haus. Auf jeder Etage machte er Halt und lauschte. Doch nichts Ungewöhnliches war zu hören. Geschirr klapperte, gedämpfte Unterhaltungen, ein verhaltenes Lachen,
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