Das Limonenhaus
alles beibringen? Konnte es sein, dass ich zwar nicht mehr mit Brigida leben wollte, aber Angst hatte, den entscheidenden, alles beendenden Satz auszusprechen? Blieb ich etwa nur wegen meiner erbärmlichen Feigheit mit ihr zusammen? Ich schüttelte den Kopf, ein zu erschütternder Gedanke, um ihm weiter nachzugehen, lieber setzte ich mich schweigend ans Steuer, wartete, bis auch Lella eingestiegen war, und fuhr dann los.
»Hier geradeaus«, sagte Lella, »da vorne an der Bushaltestelle dann rechts.« Wir bogen auf einen Parkplatz ein,
fuhren bis an sein Ende und erreichten eine schmale, von hochgewachsenen Zypressen gesäumte Straße. Als ich verstand, warum es hier auf einmal keine Häuser mehr gab, standen wir schon vor dem Tor.
»Es tut mir leid, ich hätte es dir auch gleich sagen können: Ihre Eltern sind im letzten Jahr gestorben, bei einem Autounfall.«
Ich griff mit der rechten Hand nach ihren Händen, landete aber im Leeren neben ihrem Bein und legte die Hand schnell wieder auf das Lenkrad. Ich hatte zwei Tote gesucht, war ihnen quer über die Insel gefolgt, bis zu diesem Friedhof. Ich hörte Brigidas Lachen in meinem Kopf. Ich würde ihr nichts davon erzählen, niemals. Das Lachen wurde lauter.
»Sie hat geschimpft und geflucht über Brigida, als sie da unten im Hauseingang stand, du hast es ja gehört. ›’Tuiio il paese... ‹, die ganze Gemeinde wäre da gewesen, nur die jüngere Tochter nicht.« Lella imitierte die raue Stimme von Brigidas Schwester perfekt: »›Nie hat der Papa die Mamma im Auto mitgenommen.‹ Sie war ganz aufgeregt, als ob es gestern passiert sei. Und eines Tages tat er es dann doch, weil die Busfahrer streikten. Diese Jessica erschien mir ziemlich durcheinander, aber stolz auf ihren Vater. ›Papa hat die große Villa gekauft, er hat mir die Wohnung und den Smart geschenkt, er hat immer alles für uns gemacht!‹« Lella schüttelte den Kopf und hob die Hände: »Auf dem Rückweg von dem einmaligen Ausflug sind die Eltern dann zusammen mit dem Pkw verunglückt.«
»Das hat sie dir alles zwischen Tür und Angel erzählt?«
»Ja.« Ihre Schultern zuckten, als sagten sie, du wolltest ja, dass ich mit ihr spreche.
Lella stieß die Luft aus und drehte sich nach hinten, wo sich etwas im Kindersitz bewegte. » Buongiorno, amore! Hai dormito um po’? « Dann drehte sie sich wieder zu mir und sagte: »Matilde ist wach, lass uns ein paar Schritte gehen.«
An der Friedhofsmauer war ein Blumenstand aufgebaut, er war leer. Hinter den Eisenstangen des großen Tors schlurften zwei alte Frauen in schwarzer Kleidung vorbei.
»Was hast du ihr gesagt?«
»Wann?«
»Na, wegen irgendeines Satzes von dir ist sie doch überhaupt nur heruntergestiegen von ihrem Balkon.«
»Ich habe gesagt, dass du ein bekannter Schauspieler bist, aber nicht erkannt werden möchtest.«
»Du bist unmöglich!«
»Ich hab’s für dich gemacht!« Sie sah eine Sekunde lang aus, als ob sie loskichern wollte, tat es aber doch nicht. »Komm, Matilde, wir machen einen Spaziergang!«
Wir irrten im Zickzack in der Steinwüste umher. Entlang an Mauern, Grabsteinen, Kreuzen und Madonnenfiguren, alles in einem von der Sonne ausgebleichten Grau. Wir wanderten an den ovalen Fotos der Verstorbenen vorbei, die an den Steinflächen klebten, an ausgebrannten Grablichtern und Blumen, die diesen Ort mit ihren viel zu bunten Blüten sprenkelten. Kein Fleckchen Erde war zu sehen, außer in den wenigen Tontöpfen, die auf den Steinwegen neben den Gräbern standen und auf denen die vertrockneten Pflanzen im böigen Wind wehten.
»Dort hinten vielleicht.« Lella zeigte auf eine Wand, die mit Namen, Daten und Blumen übersät war. Fünf Reihen hoch türmten sich die Marmortafeln, und über allem
spannte sich ein gleichgültiger Himmel, der in diesem Moment von lichtem Grau ins Betonfarbene wechselte. Matilde trippelte hinter uns zwischen den Grabsteinen umher. Ernst zeigte sie ihrem Bären Bandito die verschiedenen Blumen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass fast alle Blüten künstlich waren.
»Nein, ich glaube nicht, dass sie hier in einer Wand liegen. Sie werden etwas anderes haben, ein monumento«, murmelte Lella vor sich hin und schaute sich suchend um.
An einer Grabstelle in der Wand fehlte die Marmorplatte. Jemand hatte mit schwarzem Filzstift »DiSalvo, Franco, 14. April« auf den rauen Zement geschrieben und ein Passbild daneben befestigt. Mit ungläubigen Augen stierte Franco auf mich herunter, als
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