Das Limonenhaus
verstünde er nicht ganz, wie es dazu gekommen war, dass er dort oben, mit Tesafilm festgeklebt, sein eigenes Grab schmückte. Hatte es bei ihm nicht mehr für eine Marmorabdeckung gereicht? Giuseppe Sardi von nebenan hatte mehr Glück gehabt. Auch er war erst vor einem Monat gestorben, doch er durfte von einer in Plastik eingeschweißten Farbkopie auf uns Besucher herabschauen. Die Fototapete, vor der man ihn verewigt hatte, war scheußlich, er selbst beleibt und kahlköpfig, sein Lächeln brutal. Möglicherweise hatte er durch die Bedrohung seiner Mitmenschen ein herrliches, ausgefülltes Dasein hinter sich. Vielleicht täuschte ich mich aber und er war ein lieber Kerl gewesen, dem seine Enkel mit der Farbkopie noch eine letzte Freude machen wollten. Meine Gedanken kreisten: Ich mochte diese verworrene Welt nicht, diesen komplizierten Film, in dem die Guten von den Bösen nicht auf einen Blick zu unterscheiden waren. Plötzlich wusste ich nicht mehr, warum ich mir die Gräber unbekannter Menschen ansah,
und es tat mir leid, Lella überhaupt an diesen Ort gebracht zu haben.
»Lella!«, rief ich, doch meine Stimme blieb zwischen den Mauern hängen. Sie hörte mich nicht. Matilde sprang neben ihr auf und ab, während sie an den Grabstätten entlangwanderten. Als ich sie gemeinsam hinter einer Ecke verschwinden sah, durchfuhr mich ein Schreck. Überzeugt, sie für immer verloren zu haben, sprintete ich los, um sie einzuholen. Ich musste es ihr endlich sagen! Obwohl die Halle, in der ich wieder zum Stehen kam, an den Stirnseiten offen war, trug die Luft etwas Feuchtes, Dumpfes in sich. Wonach es wohl roch? Ich wünschte, Lella würde es mir mit ihren Worten beschreiben. Erst seitdem ich sie kannte, fehlten mir das Riechen und die Düfte und Gerüche meiner frühen Kindheit.
Wie Schubladen in einem großen Wandschrank reihten sich die Gedenktafeln an- und übereinander. Leitern aus Stahl mit Rollen an den Füßen konnte man daran entlangschieben, um auch in den obersten Reihen kleine Vasen mit Blumen oder Kerzen vor den Schriftzug der Toten zu stellen. Der Wind hatte in einer Ecke Sand und vertrocknete Blätter zusammengetragen. Ich las »Giuseppe«, »Giuseppa«, »Domenico« und »Rosina« und ihre Geburts- und Todestage. Vor einigen Namen standen elektrische Grablichter in Form gläserner weißer Flammen, deren Kabelstränge unter den Marmorsimsen entlangliefen. Da sah ich ihn plötzlich. In nach rechts kippender Schreibschrift stand der Name »Vinci« auf einer Doppelschublade. Eine Hälfte des Grabes gehörte Enzo, die andere Livia. Beide verstorben am 18. April.
»Ich glaube, ich habe sie«, rief ich Lella zu und winkte ihr, »alle beide!« Lella wurde von Matilde gerade am Ärmel gezogen, die andere Hand hatte die Kleine zur Hälfte im Mund. Lella kam auf mich zu. »Hier?«, fragte sie, warf einen kurzen Blick auf die Grabinschriften und zog den Mund zu einer seitlichen Schnute, wie immer, wenn sie an einer Sache zweifelte.
»Er hieß Elio, nicht Enzo. Gestorben am 18. April...«, sie schob die Vase mit den gelben Plastiknelken beiseite, »... 1998?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu lange her. Die Tochter hat etwas von letztem Jahr gesagt.«
Ich nickte und kniff die Augen zusammen. Es war eigentlich egal, ob sie hier lagen oder nicht. Entscheidend war doch, dass Brigida mir nicht gesagt hatte, dass ihre Eltern gestorben waren. Sie war nicht nach Sizilien geflogen, um ihre Eltern zu begraben, oder besser gesagt, sie in ihren Särgen hinter eine dieser Marmorplatten zu schieben und ihnen damit die letzte Ehre zu erweisen.
Matilde presste die Beine unter ihrem neuen Jeansrock zusammen und zupfte Lella am Ärmel. » Si, andiamo subito!« Lella streichelte über das rote Tuch auf Matildes Kopf, natürlich ohne die Stelle mit der Wunde zu berühren. Ihre blassrosa Lippen waren wieder glatt und wundervoll geschwungen.
»Nein, das sind sie nicht, schau doch, hier liegen sie überall, die Vincis.«
Und dann sah ich es auch: Dort ein Salvatore, hier ein Giovanni, daneben wieder mal ein Giuseppe, von denen gab es hier wirklich verschwenderisch viele. 1958 bis 1978, gerade mal zwanzig Jahre war er geworden. In den oberen Reihen häuften sie sich, überall Vincis.
»Nur ihre Eltern sind nicht dabei. Ich bin mir ziemlich sicher,
die haben auch hier eine Villa, kein Apartment in einem Hochhaus.« Lella ging an den Grabwänden entlang, ohne sich nach mir umzusehen. »Sie sind nebenan, in einem Mausoleum.
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