Das Limonenhaus
›Elio‹ und ›Carmela‹, genau wie Jessica es beschrieben hat. Komm, ich zeig es dir!« Ich folgte ihr, vorbei an Brigidas Großtanten, entfernten Onkeln und sonstigen Verwandten, und ließ mich bis zu dem Mausoleum führen. »Famiglia Vinci« stand in Stein gemeißelt über der Tür. Ich schaute durch die kunstvoll geschmiedeten Gitterstäbe in die Gruft. Roter Marmor, goldene Buchstaben, alles prächtig und teuer. Da lagen sie also, im Tode vereint, und alles nur, weil Carmela den Bus verpasst und Elio sie ausnahmsweise im Auto mitgenommen hatte. Womit das Leben mal wieder bewiesen hätte, dass es hauptsächlich aus dummen Zufällen bestand.
Ich sah schweigend auf das gemeinsame Todesdatum der beiden. Der erste Dezember war zufällig mein Geburtstag. Brigida und ich waren damals seit einem halben Jahr zusammen. Wir trugen in der Morgendämmerung unseren ersten richtigen Streit auf der Straße aus, weil man mir ihr Geschenk, einen alten, ledernen Saxofonkoffer, an der Garderobe des Clubs geklaut hatte. Kampf, Feuerpause und anschließend Versöhnung im Bett. Wir schliefen bis Nachmittags, und dann lud ich sie ins Cafe Krämer um die Ecke ein, Torte essen. Brigida liebte deutsche Cafes. Je mehr alte Damen mit Hüten sich dort tummelten, umso besser, und sie liebte Torte. An diesem Nachmittag aß sie sogar zwei Stücke Schwarzwälder Kirsch, daran erinnerte ich mich. Unmöglich, dass sie vom Tod ihrer Eltern gewusst haben sollte!
Wie auf Kommando leierte mein Telefon die Melodie der Kleinen Nachtmusik herunter. Ich hasste Mozart inzwischen,
obwohl es nicht seine Schuld war, dass sich das Stück jedes Mal wie ein Stilett in meine Eingeweide bohrte. Fieberhaft begann ich zu überlegen: Wo war ich, an welchem unverfänglichen Ort konnte ich mich gerade aufhalten, ohne dass sie Verdacht schöpfte? Ich beschloss, geheimnisvoll zu schweigen, anstatt sie sofort mit dem Tod ihrer Eltern zu überfallen. Die Melodie dudelte weiter vor sich hin, fahrig tastete ich nach dem Reiseführer in meiner Fototasche.
Lella ging ein paar Schritte beiseite. »Matilde!«, hörte ich sie rufen, »ce ne andiamo a fare la pippì?« Deswegen war die Kleine also so herumgetrippelt, sie musste zur Toilette. Ich ließ den Reiseführer stecken und versuchte, ganz ruhig zu atmen. Meine Begrüßung sollte unbefangen und ganz frisch klingen. Ruhig wollte ich abwarten, was Brigida zu sagen hätte.
»Moinmoin!« Manchmal lachte sie, wenn ich den nordischen Seemann für sie machte.
»Haha«, raunzte sie zurück. Sie war schlecht gelaunt. Ich hatte vergessen, sie ›amore‹ zu nennen. Nun hätte ich so schnell wie möglich für gute Stimmung sorgen müssen, doch was um Himmels willen konnte ich ihr sagen? In mir war nichts für sie, nicht einmal ein echter, aufrichtiger Gedanke aus den letzten Tagen, den ich auf die Schnelle hervorholen konnte. Der Lavastein und der Ast des Maulbeerbaums waren sicher noch nicht angekommen. Hoffentlich würde beides sie niemals erreichen! Ich vermisste sie nicht, und es interessierte mich auch nicht, was in der Galerie geschah. Sollte ich etwa anzügliche Anspielungen auf meinen Penis loslassen, den sie auf Partys heimlich im Vorübergehen festhielt und knetete? Doch dem Kapuziner war nicht im Geringsten danach, sich an Erinnerungen hochzuziehen.
Die Zeit lief. Jede Sekunde, die ich schwieg, wurde von ihr registriert. Was mir jetzt noch einfallen mochte - es war falsch. Meine ganze Welt war falsch. Ich mochte Düsseldorf nicht, meinen Job nicht und mein Zimmer in der Wohngemeinschaft mit Florian deprimierte mich derart, dass ich nur noch selten eine Nacht darin verbracht hatte, seitdem ich Brigida kannte. Die kahl gehaltenen Räume ihrer Wohnung hatte ich anfangs bewundert, dabei waren sie nur leer und ungemütlich. Brigidas magere Musiker-Freunde, die ausschließlich über ihre Musik redeten, hatte ich verachtet und gleichzeitig um ihre ehrliche Begeisterung beneidet. Bei mir gab es nur eine künstliche, auf Brigida zugeschnittene Begeisterung. Ich rettete mich von einem Tag zum nächsten, immer besorgt, bei ihr nicht aufzufliegen und herauszufliegen. Meine ganze Welt war unecht und lächerlich. Höchste Zeit, sie in die Luft zu jagen. Jetzt!
»Deine Schwester sieht dir ähnlich.«
Sie brauchte drei Sekunden. »Jessi?«
»Sie war wirklich nett.« Ich sagte absichtlich ›nett‹, denn Brigida hasste dieses Wort.
»Zum Kotzen ›nett‹! Was machst du bei Jessi?«
»Nichts. Sie hat mich zum Friedhof
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