Das Limonenhaus
irgendetwas darüber herausfinden können? Warum diese Feindschaft, dieser Hass aufeinander?« Gleich bei meinem ersten Besuch hatte ich meinen Bruder mit Fragen gelöchert.
»Eine uralte Bagatelle, nehme ich an«, hatte Leonardo geantwortet. »Grazia weiß auch nichts Genaues. Ein Streit um ein Grundstück vielleicht, eventuell hat einer dem anderen aus Versehen einen Olivenkern in den Limoncello gespuckt oder einen Mandelbaum gefällt, der an der Grenze zu irgendeinem Grundstück stand. Solche Feindseligkeiten gibt es hier oft, die schaukeln sich über die Jahre hoch, bis keiner mehr weiß, worum es überhaupt ging.«
»Aber weswegen sind Mamma und Papa aus Sizilien weggegangen?«
»Frag sie doch!«
»Sehr witzig!«
»Gemellina! Man bekommt doch aus den Leuten hier auch nichts heraus. Vaters Eltern hatten eine Polsterei in Bagheria, ich kann dir die Werkstatt zeigen. Heute ist eine Wäscherei da drin, aber wenn man genau hinschaut, kann man unseren Namen noch an der Mauer erkennen. Die waren anscheinend mal richtig wohlhabend. Leider ist niemand mehr da, den wir fragen könnten, alle sind tot.«
»Und Papas Schwester?«
»Zia Antonia? Na, da musst du in Bologna anrufen, so taub wie die ist, viel Glück!« Leonardo hatte mich mit beiden Händen um die Taille gepackt, er konnte jeden Moment zuzwicken. »Lella, ich weiß es wirklich nicht! Keine Ahnung.« Und dann hatte Leonardo mit seinen Händen zugedrückt, und ich konnte nicht anders, als vor Lachen aufzukreischen.
Ich zuckte bei der Erinnerung an Leonardos Hände auf meiner Kirchenbank zusammen. An jeder Ecke, auf jedem Sims stand ein Gesteck weißer Lilien. Ihr betäubender Geruch und die Ausdünstungen der vielen schwitzenden Menschen krochen mit einem Hauch von Verwesung unter meine Kleidung und legten sich klebrig auf meine Haut. Damals bei Leonardos Beerdigung waren unsere roten Rosen zwischen all den blutrünstigen Gemälden, vergoldeten Nischen und gläsernen Schreinen kaum zu sehen gewesen. Ich dachte daran, wie krumm Mamma neben mir gesessen hatte, ich fühlte noch einmal den Schmerz in meinem steifen Körper und meine Angst vor dem nächsten Moment, den es zu überstehen galt. Wozu noch die verweinten Augen öffnen, wozu
atmen, wo doch jeder Atemzug sinnlos geworden war und jede Minute einfach nur zu einer Minute ohne ihn wurde?
Jetzt saß ich wieder in dieser vergoldeten Kirche, hörte die Autos draußen hupen und starrte nach vorne auf den geschlossenen Sarg. Also, was konnte ich tun? Wie sollte ich an Matilde herankommen, und wohin sollte ich sie mitnehmen? Nach Hause, in die Pizzeria zu meinem Vater? Der seinen Sohn nach der Heirat mit dem falschen Mädchen verstoßen hatte? Der sein Enkelkind noch nie gesehen hatte?
Warum soll überhaupt ich es sein, die die Folgen deiner falschen Entscheidungen wieder in Ordnung bringt, Leonardo? Warum ausgerechnet ich?, schimpfte ich innerlich vor mich hin.
Leonardo antwortete nicht. Typisch. Das hatte er schon immer so gehalten, Kritik prallte einfach an ihm ab.
Angefangen hatte alles damit, dass sich Leonardo nach Abschluss seiner Ausbildung ins Ausland bewarb, zunächst nach Paris. Ich betete dagegen an, aber natürlich bekam er die Stelle. Leonardo bekam immer alles, was er wollte.
In den nächsten Jahren reiste mein Bruder in der Welt umher, er kochte, er lernte. Nach einem halben Jahr wurde er von seinem Pariser Chef nach St. Martin geschickt, danach kochte er in Boston in einem vornehmen Nachtclub, ein paar Monate später bereitete er in London bei einem Flughafen-Caterer vierunddreißigtausend Mahlzeiten am Tag vor. Schließlich kehrte er nach Paris ins Ti Beudeff zurück und wurde Souschef, stellvertretender Küchenchef.
»Ich saufe nicht, wie die meisten, na ja, ich teil es mir ein«, erklärte er mir ein knappes Jahr später, als er für zwei kurze Tage bei uns vorbeirauschte, »und ich kann es eben.
Catering, aber auch à la carte. Wenn sie das erst mal sehen, hören die Chefs ziemlich schnell auf, mich anzubrüllen.«
Sein à la carte hatte für mich eine perfekte französische Melodie, die ich an ihm hasste und bewunderte. Am nächsten Tag flog er weiter nach Dubai. Zwei weitere Jahre vergingen.
Dann kam der Tag, an dem der Brief aus Sizilien eintraf. Der Absender war eine Anwaltskanzlei aus Bagheria. Mamma Maria bekam beim Anblick des dicken Umschlags einen Schwächeanfall und lag zwei Tage im Bett. Sie ließ mich nicht in die Papiere des Anwalts hineinschauen, sondern
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