Das Limonenhaus
Grazias Parfüm riechen. Es drang aus ihrer Kleidung, die verpackt auf Bügeln hing und bleich durch die Plastikhüllen hindurchschimmerte. Grazia hatte fast ausschließlich Weiß getragen.
Auf dem obersten Brett sah ich eine kleine Ecke karierten Stoff hervorschauen. Es war der Koffer mit dem aufgenähten Hasen, den ich Matilde vor zwei Wochen zum vierten Geburtstag geschickt hatte. Ich stieg auf einen Stuhl, holte ihn herunter und öffnete den Reißverschluss. Als Kind hatte ich mir immer so einen Koffer gewünscht. Matilde sollte ihr Spielzeug hineinpacken und ihn durch die Wohnung rollen,
hatte ich auf die Glückwunschkarte geschrieben. Aber Teresa hatte Matilde mein Geschenk vermutlich überhaupt nicht gezeigt, der Koffer schien völlig unbenutzt. Ich begann, kleine rosa T-Shirts, blumige Hosen, zwei Nachthemden und Matildes Unterwäsche aus den Fächern zu nehmen und auf den roten Kofferboden zu stapeln. Mit sicherem Blick erkannte ich die Sachen, die ich Matilde geschenkt hatte. Teresa dagegen bevorzugte Jogginganzüge für ihr Enkelkind, die sich in grässlichem Gelb, Babyrosa und Pink in den Fächern stapelten und die ich dort liegen ließ.
Wie viele Pullover sollte ich einpacken? Würde eine Jacke reichen? Es war warm, aber Mitte Mai konnten die Nächte noch kühl sein. Ich würde etwas kaufen. Meine Hand hielt inne, als seine Stimme mich scharf unterbrach: Du wirst gar nichts kaufen!
Leonardo, ich weiß nicht, was ich tun werde.
Ich sage dir, was du tun wirst. Du wirst sehr vernünftig und nur ein kleines bisschen feige sein und Matilde hier lassen!
Ich konnte ihm keine Antwort darauf geben und ging darum einfach weiter Matildes Kleidungsstücke auf den Bügeln durch. Sehr vernünftig und ein kleines bisschen feige... Einfach nicht darüber nachdenken. Langsam ließ ich den geblümten Gürtel eines roten Sommerkleidchens durch meine Finger gleiten. Da ihre eigentliche Größe letzten Sommer nicht vorrätig gewesen war, mir das Kleid aber so außerordentlich gut gefallen hatte, hatte ich es eine Nummer größer genommen. Deswegen wird es auch dieses Jahr noch passen, überlegte ich, während ich wartete, dass die Tür sich hinter meinem Rücken öffnete.
»Die da! Was macht die da?!«, würde Teresa keifen. Sie siezte mich nicht, sie sagte nicht lei, sie benutzte quella, was
so viel wie »die da« bedeutete. Aber die Tür blieb geschlossen.
Vernünftig und feige. Leonardo war so gemein! Ich streifte das rote Kleid vom Bügel und legte es zusammen mit einer dicken Strickjacke in den Koffer.
Kapitel 6
LELLA
»Gott hat recht, was immer er auch geschehen lässt. Seine Wege sind unergründlich«, eröffnete Padre Francesco der Trauergemeinde. Seine Worte reihten sich viel zu laut aneinander, übertönten sich gegenseitig in einem blechernen Lautsprecher-Echo und verhallten zwischen den weißgoldenen Mauern der mit Blumen geschmückten Chiesa Madre.
»Durch schwere, unsichtbare Krankheit wurdest du so unerwartet aus deinem noch so jungen Leben gerissen«, versuchte der Padre uns Anwesenden Grazias Tod schmackhaft zu machen. Er log - und wir alle wussten es.
Musste es unbedingt dieselbe Kirche sein wie vor drei Jahren? Wenn ich geahnt hätte, dass ich auf derselben Kirchenbank wie bei Leonardos Beerdigung sitzen würde, wäre ich aus Köln gar nicht erst losgeflogen. So aber saß ich fast genau an der Stelle wie damals im Mai, nur diesmal zwischen den ablehnenden Schultern der Familie LaMacchia, die sich neben mir und auf der anderen Seite des Ganges ausbreiteten. Ich spürte ihre empörten Seitenblicke. Sie hatten angenommen, dass ich den Anstand besäße, mich in einer der hinteren Bänke zu verkriechen.
Nein, nein, nein! Dein Platz ist in der ersten Reihe! So kannst du Grazias Sarg besser sehen !
Ich hatte mich von Leonardos Stimme nach vorne führen lassen.
Grazia ist tot, sie wird bestimmt keinen Wert darauf legen, dass ich ihren Sarg bewundere. Sie konnte mich nie wirklich leiden!, hielt ich ihm entgegen.
Sie mochte dich, sie konnte es nur nicht immer zeigen. Du hattest etwas gegen sie, das wissen wir beide, Lella!
Cavolo! Du bist tot, Leonardo, und du willst immer noch recht haben.
Ich habe eben immer noch recht!
Ich erwiderte nichts mehr, sondern schnaubte nur leise. Gegen Leonardo kam ich einfach nicht an.
Das Gefühl, für eine ganze Gruppe von Menschen unsichtbar zu sein, kannte ich bisher nicht. Für die LaMacchias war ich ein Bestandteil der abgestandenen Luft.
»Hast du
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