Das Limonenhaus
mir vor, wie schwarz und undurchdringlich das Dunkel war, in dem ihr gelblich graues Gesicht nun endlich lag. Leise und unbemerkt von der klagenden Familie stand ich schließlich auf, ging, ohne
den Blick zu heben, aus dem Salon und schlich an der Küche vorbei. Mein Hals war völlig ausgetrocknet. Das, was ich hier tat, war äußerst unangebracht.
Sag einfach, du suchst die Toilette, beruhigte ich mich.
Ich fand Matilde in einem kleinen Zimmer. Die Jalousien waren wie überall in der Wohnung auch hier heruntergelassen. Ein Fernseher lief ohne Ton. Matilde saß regungslos in rosa Unterwäsche auf dem Bett, eine Wintermütze auf dem Kopf, ein Lätzchen um den Hals, und starrte auf Tom und Jerry, die sich durch Mäuse- und Käselöcher jagten.
»Matilde!« Sie schaute hoch, lächelte schüchtern, schlug die Augen nieder und zappelte aufgeregt mit ihren nackten Füßen. Dann sprang sie auf und flog in meine Arme.
»Hast du...?«, begann sie auf Italienisch. Ich setzte mich und zog Matilde dabei auf meinen Schoß. Tief sanken wir in der weichen Matratze des Bettes ein.
»Du kannst mich ruhig fragen. Natürlich habe ich dir etwas mitgebracht, aber nur etwas ganz, ganz Kleines.« Auf dem Kölner Flughafen hatte ich in aller Eile noch etwas für sie gekauft. Wo stand geschrieben, dass man einem Kind zur Beerdigung seiner Mutter nichts mitbringen durfte? Ich überreichte ihr ein buntes Päckchen. Sie wickelte es aus und betrachtete die beiden Tiger andächtig.
»Gefallen sie dir?«
Matilde nickte. Dann rutschte sie tiefer, kuschelte sich mit ihrem bemützten Kopf in meine Arme wie ein Baby und drehte die Tiger dicht vor ihren Augen hin und her. So blieben wir sitzen. Ich wiegte sie sanft und streichelte über ihre glatten Beine. Ich liebte das samtige Gefühl ihrer Kinderhaut unter meiner Hand, wieder und wieder strich ich auf und ab.
»Schau mal, der eine hat eine rote Zunge und der andere nicht!«
»Was du alles entdeckst, Mätti!«
»Warum hat dieser hier eine rote Zunge und der andere nicht?«
»Diese Zunge hat der Mann, der die Tiger angemalt hat, vergessen«, sagte ich.
»Vielleicht hat ihn jemand gestört«, überlegte Matilde. »Bestimmt hat ihn sein Kind gestört, und dann hat er’s vergessen.«
»Ich glaube, sein Kind hat ihn nicht gestört, ich glaube, er ist etwas essen gegangen. Er aß zu viele Gnocchi mit Tomatensoße, und danach war er so satt, da hat er nicht mehr daran gedacht.«
Matilde nickte und drehte die Tiger weiter vor ihren Augen. Lange konnte es nicht mehr dauern, vom Flur waren Stimmen zu hören. Da ging auch schon die Tür auf, und Teresa kam herein.
»Komm! Komm, waschen und anziehen für die Mamma! Die Mamma will dich schön sehen!« Teresa zog das Kind aus meinen Armen, wobei sie es geschickt vermied, mich zu berühren. Wie ein Äffchen schwang Matilde kurz an einer Hand in der Luft, sie ließ die Tiger fallen. Schon waren sie bei der Tür. Es dauerte nur Sekunden, da waren Matildes dünne Beine entschwunden. Im Fernseher schlug die Maus den Kater mit einem Holzhammer wie einen Pflock in die Erde.
Ich stand auf, sammelte die Tiger vom Boden und schaltete das Gerät ab. Wie grob sie mir Matilde entrissen hatte, sie hätte ihr das Schultergelenk auskugeln können! Und warum musste sie das Kind immer tragen, ständig schleppte sie
es auf dem Arm und hinderte es am Laufen. Oder sie ließ es in dem klapprigen Karren mit den rotierenden Rädern sitzen, den man kaum lenken konnte. Im Alter von vier Jahren war Matilde wahrscheinlich erst eine Strecke von drei Kilometern auf ihren eigenen Füßen gelaufen. Zwei davon hatte sie mit mir zurückgelegt. Ich hätte Teresa am liebsten mit dem Hammer der Zeichentrick-Maus auf ihren glatt gestriegelten Kopf geschlagen und wünschte, Matilde hätte geschrien und um sich geschlagen, um bei mir bleiben zu können. Aber sie hatte nicht protestiert.
Ich schaute mich zwischen den Plastikfiguren und Plüschtieren um, die alle viel zu ordentlich im Regal saßen. An der Wand hing ein Plakat von Pu dem Bären im roten Pullover und ein gerahmtes Bild von Padre Pio in seiner braunen Mönchskutte. Unter seinem Abbild stand »Bete für uns!«, Unter Pu war nichts zu lesen. Ich schaute mich vergeblich nach den Bilderbüchern um, die ich meinem Patenkind bei jedem Besuch mitgebracht hatte. Vor dem Fernseher lagen zahllose Walt-Disney-Filme verstreut. Ich legte die Tiger auf Matildes Kopfkissen und öffnete dann zögernd den Kleiderschrank. Sofort konnte ich
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