Das Loch in der Schwarte
dem inneren Norrland, die noch ein Semester in diesen unterkühlten, viel zu gut gelüfteten Laborsälen durchlitten und einen weiteren hoffnungslosen Artikel über irgendein Konglomerat geschrieben hatten, den niemand sich ansehen würde, abgesehen von ihren Müttern. Es war langweilig zu lesen und langweilig, daran zu denken, es waren Texte so bar jeden Lebens und jeder Spontaneität, dass sie spürte, wie ihr die Augenlider zufielen. Müdigkeit übermannte sie. Sie befand sich im Grenzland zum Schlaf und spürte, wie ihre Gedanken frei zu schweben begannen. Und sie meditierte über folgende Fragen:
»Warum war es nur so schrecklich langweilig mit diesen Steinen? Ja, warum gehörte ausgerechnet die Wissenschaft über die Gesteine zu den monotonsten, die man auf diesem Planeten studieren konnte?«
»Weil sie schlafen«, antwortete eine Stimme in ihrem Inneren.
Bei diesem Gedanken zuckte sie zusammen. Es war unleugbar ein lustiges Bild. Ein großer alter Findling, der schnarchend im Moos lag. Sie lächelte eine Weile in sanfter Seligkeit zwischen Wachsein und Schlaf. Dann stand sie erfrischt auf, ging zu ihrem alten, schmutzigen Linux und schrieb den Artikel, der zum Keim der modernen Gesteinsforschung werden sollte.
Was diese anstrengende, nervige und schwefelausdünstende Frau dann schrieb, das war kein wissenschaftlicher Aufsatz, sondern eher eine Art geologische Plauderei für die Studentenzeitung Luleum. Natürlich behauptete sie darin, dass die Steine lebten. Der Witz dabei war nur, dass sie so langsam lebten, dass es nicht bemerkt wurde. Im Laufe der Geschichte hatten die Steine drei verschiedene Entwicklungsstadien durchlaufen, und zwar folgende:
Das Eistadium, das normalerweise Big Bang genannt wurde.
Das Larvenstadium, in dem die Grundstoffe der Steine im Inneren der Sterne zusammengefügt wurden.
Das Kokonstadium, in dem das Planetensystem heranwuchs. Auf diesen Planeten nahmen die Steine eine harte, schlafende und scheinbar vollkommen unbewegliche Form an.
Pernilla Hamrin behauptete provokativ, dass die Steine das höchste Entwicklungsniveau erreicht hätten, das bis jetzt im Universum erreicht worden sei. Alle anderen, alle auf Kohlenstoff basierenden Lebensformen, die im Vorübergehen entstehen konnten, wie beispielsweise Blasenalgen, Milben und Menschen, waren nur unbedeutende Zufälle. Die Steine waren schweigende Kokons, in deren Innerem ein ungemein ausgedehnter Prozess vor sich ging. Eine Umwandlung und Reifung, viel zu langsam, um im Laufe der kurzen Existenz der Menschengeschlechter entdeckt zu werden. Erst nach einer unbekannten Anzahl von Jahrmillionen würde man das nächste Stadium erreichen. Das des Schmetterlings.
Zu diesem Zeitpunkt schlief Pernilla, die Stirn auf die Tastatur gedrückt, und wurde von dem berühmten Hamrintraum erleuchtet, in dem sie sah, wie sechs Schlangen aus dem gleichen Destillationskolben schlürften. Und wenn sie nur mehr auf Draht gewesen wäre, dann hätte dieses Traumbild sie zu einem wissenschaftlichen Durchbruch inspirieren können. Stattdessen war es ihr Kommilitone Stålnakke aus Kiruna, der ihren Traum deutete und einen bahnbrechenden Aufsatz über das Hexa-Ethanolmolekül schrieb und wie man mit dessen Hilfe Schnaps mit einem 187-prozentigen Alkoholgehalt herstellen konnte, aber das ist natürlich eine ganz andere Geschichte.
Pernillas Artikel wurde im Luleum auf der Vermischten-Seite abgedruckt. Wie bei Studentenzeitungen üblich wurde nur sehr wenig von der Redaktion selbst geschrieben, dazu war man zu faul und zu unbegabt. Stattdessen tauschte man aus, lieh, klaute und schrieb munter aus allen anderen Studentenzeitungen ab, die man in die Hände bekam, ohne sich um solche Kleinigkeiten wie Copyright zu kümmern, und das erst recht nicht in Anbetracht dessen, dass als rechtlich verantwortlicher Herausgeber des Luleums ein Lateinassistent angegeben war, der bereits 1952 verstorben war. Und da alle anderen Studentenzeitungen ebenso verfuhren, wurde Hamrins Steinartikel ebenso effektiv verbreitet wie eine Ladung unterschlagener Laborschnaps, und bald konnte er an den verschiedensten Universitäten der Welt gelesen werden.
Im gleichen Frühling wanderte die mit ihren strähnigen Haaren trauerbirkenähnliche Studentin Sigrid Wasser in der österreichischen Stadt Graz herum, knabberte an einem Apfelstrudel und zerbröselte während ihrer Spaziergänge das periodische System. Sie kam zu dem Schluss, dass die alte Systematisierung der
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