Das Loch in der Schwarte
Grundstoffe nach deren Protonenanzahl auf einer optischen Täuschung beruhte. Die Eigenschaften der Grundstoffe hätten nichts mit den Kernpartikeln zu tun. Sondern mit dem Vakuum zwischen ihnen. Es waren die großen, leeren Bereiche innerhalb der herumwirbelnden Elektronenschale, die über die Eigenschaft der Materie entschieden. Die Materie selbst war aus dem Vakuum erbaut. Aus einer unzähligen Menge kleiner, unsichtbarer Hohlräume. Wenn wir mit der Hand über eine Marmorstatue strichen, so waren es nicht die Kernpartikel, die wir fühlten, sondern die Zwischenräume zwischen ihnen. Wir hielten die Leere in unseren Händen und nannten diese Leere Stein. Warum hatte sich dann die Forschung bisher gänzlich auf die kleinen Kernpartikel konzentriert und die Hohlräume übersehen? Und wichtiger noch, woraus bestand all diese Leere?
Während einer ihrer Spaziergänge setzte Sigrid sich auf eine Parkbank, holte die Studentenzeitung der Grazer Universität heraus und blätterte lustlos darin herum. In eben dieser Ausgabe war Pernilla Hamrins Artikel abgedruckt, schlecht übersetzt, aber dennoch einigermaßen verständlich. Und mit einem Mal fand Sigrid das Puzzleteilchen, das ihr noch fehlte.
Die Steine sind im Kokonstadium. Sie leben, aber sie schlafen.
Der Schlaf.
Die Leere in den Steinen, ja, in jeglicher Materie, bestand aus Schlaf. Es war dieser Stoff, aus dem die Welt, die wir momentan bevölkerten, gebaut war, jedes einzelne kleine Sandkorn bestand aus einer Unzahl von Schlafblasen.
Aber wenn das stimmte, wer oder was war es dann, das da schlief? Und was taten eigentlich wir Menschen anderes, als zu versuchen, diesen Schlaf zu stören? Sigrid dachte weiter nach und kam zum gleichen Schluss wie Pernilla Hamrin. In ferner Zukunft würde der Schlaf von einem Aufwachen gefolgt werden. Wer oder was war es, was dann aufwachen sollte? Wer oder was würde aus den Kokons der Steine kriechen? Waren es Schmetterlinge? Und wie sahen diese Schmetterlinge aus?
Sigrid publizierte schließlich ihren Aufsatz und war ehrlich genug, Pernilla Hamrins Namen zu erwähnen. Aber die Frage war, ob das so wünschenswert war, da der Entwurf rücksichtslos verlacht und verhöhnt wurde von dem kleinen Teil der Forscherwelt, der ihn überhaupt zu Gesicht bekam. Genau wie Charles Darwin im 19. Jahrhundert als Affe dargestellt wurde, wurde Sigrid nun in einer Karikaturzeichnung in der Grazer Studentenzeitung als laut schnarchender Stein mit geschlossenen Augen abgebildet.
Im folgenden Jahr gelang es zwei jungen russischen Chemikern, Schlaf in einem Labor in Sankt Petersburg zu destillieren. Die beiden Glasröhrchen mit Schlaf und der Stein, aus dem er stammte, wurden in der ganzen Welt im Fernsehen gezeigt. Die Russen hatten außerdem die Dreistigkeit zu versuchen, den Stein zu wecken, was ihnen jedoch trotz hartnäckiger Versuche nicht gelang. Eine Probe des Schlafs wurde an mehrere Universitätslabors rund um die ganze Welt geschickt, wo eine Serie von Experimenten durchgeführt wurde, was nicht so einfach war, da der Schlaf unsichtbar war. Dennoch gelang es, genau das nachzuweisen, was Sigrid angenommen hatte: dass der Schlaf die gleichen physischen Eigenschaften hatte wie der Stein, dem er entzogen worden war – die gleiche Wärmekapazität, die gleiche Densität, die gleiche Druckfestigkeit und so weiter. Es war Stein, den man im Reagenzglas hatte, aber Stein, der nicht sichtbar war.
Man war schlicht und einfach gezwungen, Sigrids Aufsatz wieder hervorzuholen. Und dann die Originalnummer des Luleums zu suchen, in dem Pernilla Hamrins Artikel stand. Und als es Forschern in Chicago und Sydney und anschließend im Rest der Welt gelungen war, die Destillation zu wiederholen, war die Sache klar. Sigrid hatte Recht gehabt. Das Periodische System konnte in den Papierkorb geworfen werden. Die Erdkruste bestand in der Tat aus Schlaf.
Hamrins Theorie von den schlafenden Steinen war jetzt also von der Wissenschaft bestätigt worden und verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften, New-Age-Magazinen und den normalen Abendzeitungen.
»Die Steine schlafen!«, ertönte es überall auf der Welt.
Und weil sie schliefen, mussten sie ja ein Leben beinhalten.
»Die Steine leben!«, war also die nächste Überschrift, was den Startschuss für eine schnell anwachsende Steinbewegung gab. Sie fand ihre Wurzeln bei den Veganer-Aktivisten und wurde genauso dogmatisch. Die Anhänger widersetzten sich jeder
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