Das Maedchen am Klavier
Kirchenwerk zu komponieren, sickerte durch,ein Oratorium, das auf der Apostelgeschichte basierte: »Paulus«, über die Selbstfindung eines Menschen. Die Mappen mit den Noten dafür seien schon ganz dick, erzählte nach einer üppigen Trinkgeldgabe das Stubenmädchen des Hauses. Die Neugierigen schlossen daraus, dass der Komponist sein Werk dann wohl bald beendet haben würde.
Eine geheimnisvolle Aura schien dieses Werk zu umgeben, über das Felix Mendelssohn niemals sprach. Manchmal wagte der eine oder andere, ihn danach zu fragen, doch die Antwort war jedes Mal kühl und abweisend, als hätte Felix Mendelssohn Angst, das unfertige Werk durch Gerede und Erklärungen zu banalisieren. In solchen Augenblicken wirkte er auf die allzu Neugierigen unzugänglich und arrogant. Auch wer ihm zu sehr schmeichelte, konnte sich eine Abweisung einhandeln – ein wenig ärgerlich und ein wenig ironisch zugleich. Das waren die Situationen, in denen sich die Betroffenen zum eigenen Trost daran erinnerten, dass Felix Mendelssohn jüdischer Abstammung war.
Auch Clara lernte ihn bald persönlich kennen. Schon in seiner ersten Leipziger Woche besuchte er einen der musikalischen Abende ihres Vaters. Um dem Gast eine Freude zu bereiten, spielte ihm Clara sein eigenes »h-Moll-Capriccio« vor – ohne Noten und unter Einsatz ihres ganzen Temperaments. Mitten im Spiel blickte sie kurz zu ihm hinüber. Selbst in diesem Bruchteil einer Sekunde konnte sie erkennen, dass er begeistert war. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass er aufstand und zu ihr an den Flügel trat. Seine Hände schlugen den Takt. Das regte sie zu noch größerem Eifer an, und sie spielte das Stück noch wilder und lebhafter als sonst, sodass alle Anwesenden davon mitgerissen wurden.
Nach dem letzten Ton war es erst ganz still. Dann klatschten alle, liefen zu ihr hin und gratulierten ihr.
»Das ist meine Tochter!«, erklärte Friedrich Wieck voller Stolz. »Meine Clara.«
Es kam Clara vor, als hätten sich Felix Mendelssohns Wangengerötet. »Sie haben gespielt wie ein Teufelchen, Mademoiselle!«, sagte er entzückt. »In letzter Zeit habe ich mich von diesem Stück ein wenig abgewandt. Ich hatte es wohl selbst schon zu oft gespielt. Unter Ihren Händen aber ist es wie neu für mich geworden. Sie haben es mir zurückgeschenkt. Ich liebe es wieder.« Er lächelte Clara so herzlich an, dass es ihr vorkam, die Liebeserklärung gelte nicht nur dem Werk, sondern auch ihr selbst. Sie lächelte zurück und wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.
Ein Schweigen entstand. Alle Anwesenden warteten darauf, dass es irgendwie endete. Da holte sich Felix Mendelssohn einen Stuhl ans Klavier, setzte sich und zog Clara am Arm neben sich. Leise und sanft begann er zu improvisieren. Dann hielt er kurz inne und wartete auf Claras Antwort. Abwechselnd spielten sie nun und dazwischen immer wieder gemeinsam. Nach dem schüchternen, zarten Beginn immer lauter und fröhlicher. Sogar ein frivoler kleiner Walzer drängte sich in die Fülle der Töne. Dabei blickte Felix Mendelssohn seiner Partnerin immer wieder in die Augen, lächelte und berührte sie in der Bewegung des Spiels von der Seite her scherzhaft mit dem Arm oder dem Knie.
Es war die reine Lebensfreude. Nichts Plumpes oder Verruchtes. Ein junger Mann zeigte einem jungen Mädchen, dass es ihm gefiel, einfach nur gefiel. Das hieß nicht: Ich will dich. Auch nicht: Ich liebe dich. Es hieß nur: Das Leben ist wunderbar, du Schöne! Freuen wir uns! Seien wir glücklich: du und ich und alle in diesem Zimmer, meinetwegen sogar in dieser Stadt, in diesem Land und überall dort, wo Menschen sind, die sich freuen möchten, ohne zu viel voneinander zu fordern oder einander zu bedrängen!
»Es war eine Sternstunde, Maestro!«, schwärmte Friedrich Wieck, nachdem Clara das gemeinsame Spiel mit einem ihrer berühmten Kadenzgedonner beendet hatte. Danach erhob sie sich und bedankte sich gemeinsam mit Felix Mendelssohn für den Applaus. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum atmen konnte. Felix Mendelssohn merkte es und legte den Arm um ihre Schultern. Er zog sie kurz zu sich heran und küsste sie auf die Wange. EinKinderschmatz!, dachte Clara. Es ist, als hätte ich einen geliebten Bruder ... Mehr wagte sie nicht zu hoffen und mehr wollte sie vielleicht auch gar nicht.
Sie fühlte sich wie in einem Traum. All der Lärm um sie herum klang fern. Ja, das Leben war schön, und es war schön, so jung zu sein, alles noch vor sich liegen zu haben und
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