Das Maedchen am Klavier
sich nicht vorstellen zu können, nicht immer nur glücklich zu sein.
In dieser Sekunde fiel ihr Blick auf Robert Schumann, mitten unter den anderen Gästen. Sein Gesicht war so blass wie damals, als er krank gewesen war. Als Einziger lächelte er nicht. Er starrte sie nur an, wie sie da mit Felix Mendelssohn stand, so jung, so hübsch und so unbeschwert. Alle hier waren unbeschwert und klatschten. Nur dieser eine nicht.
Am 13. September 1835 feierte Clara ihren sechzehnten Geburtstag. »Der Tag, an dem du kein Kind mehr bist«, kündigte Clementine mit schicksalsschwerer Miene an. »Jetzt beginnt auch für dich der Ernst des Lebens.« Als ob Clara nicht schon längst gelernt hätte, um ihre Stellung in der Welt zu kämpfen!
»Von jetzt an müssen alle ›Sie‹ zu dir sagen«, stellte Alwin neidvoll fest, woraufhin Friedrich Wieck die Stirn runzelte und ergänzend hinzufügte, das gelte vor allem für einen gewissen Herrn Schwärmerer, der sich nun endlich damit abfinden müsse, dass Demoiselle Wieck eine junge Dame sei, der mit Respekt und Distanz begegnet werden müsse.
»Respekt und Distanz?«, lachte Clara. Sie erinnerte sich daran, wie sie selbst ohne jeden Respekt Robert Schumann durch die Parks von Leipzig und über die Landstraßen der Umgebung gejagt und zu schweißtreibenden Turnübungen gezwungen hatte. Trotz seiner Beziehung zu Ernestine und der versteckt spürbaren Entfremdung in letzter Zeit war er immer noch ein Freund für sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie jemals anders anreden würde als mit ihrem Vornamen und mit »Du« . Trotzdem würde er auf diese Vertraulichkeit nun wohl verzichten müssen. Es ging nicht an, dass von zwei Erwachsenen einer den anderenduzte und jener Sie zu ihm sagte. Es wäre eine Lösung gewesen, hätte auch Clara Robert Schumann geduzt, doch das war gesellschaftlich unmöglich. Es gehörte sich einfach nicht, das sah sie ein.
Wenn Clara in späteren Jahren an ihren sechzehnten Geburtstag zurückdachte, war sie überzeugt, dass dies der glücklichste Tag ihres ganzen Lebens gewesen war. Ein Tag vollkommener Freude, an dem sie sich geliebt und bewundert fühlte, geborgen unter Menschen, die zu ihr gehörten. Alle Selbstzweifel schienen verflogen. Sie glaubte an sich und an die eigene Kraft, und sie glaubte daran, dass ihr das Schicksal, das über allem waltete, wohlgesonnen war. Vor Schwierigkeiten hatte sie nie Angst gehabt. Jetzt aber vertraute sie mehr als je zuvor darauf, dass sie meistern konnte, was immer ihr auferlegt wurde. Stark und unbesiegbar fühlte sie sich, als sie an ihrem Geburtstagsmorgen kurz vor sieben Uhr vor dem Spiegel stand und die birnenförmigen Perlenohrringe anlegte, die sie sonst nur zu ihren Konzerten trug.
Die ganze Familie hatte sich schön gemacht. Sogar Alwin und Gustav trugen noch die gerillten Spuren ihrer Kämme im feuchten Haar, und Friedrich Wieck roch nach einem Herrenparfum, das er während seines Parisaufenthalts gekauft hatte und nur zu den allerfestlichsten Anlässen auf seine empfindlichen Wangen tätschelte. Wie jedes Mal stellte er auch an diesem Morgen fest, dass die teure Lotion inzwischen leider schon viel von ihrer Duftkraft eingebüßt hatte. »Ich werde wohl wieder einmal nach Paris reisen müssen«, neckte er Clementine, die missmutig entgegnete, dekadente Duftwässer gebe es inzwischen auch in Deutschland.
Sogar die kleinen Mädchen Marie und Cäcilia hatte man schön herausgeputzt und ihnen rosaseidene Schleifchen ins Haar gebunden, und auf dem Tisch im Salon stand ein großer Blumenstrauß – gekauft, nicht bloß aus dem Garten, was Clementine eigentlich für übertrieben erachtete.
Als Clara von ihrem Zimmer die Treppe hinunterstieg, kam ihr August entgegen und zwinkerte ihr komplizenhaft zu. »Wenn du von jetzt an nach Paris fährst, wird es noch viel lustiger alsfrüher«, kündigte er an. »Da wirst du noch allerhand lernen können von den Herrn Franzosen.«
Clara fand sein Grinsen schmutzig, aber daran war sie bei ihm schon gewöhnt. So war er eben, und sie kannte ihn nicht anders. Trotzdem verlangsamte sie ihren Schritt, blieb aber nicht stehen. »Duz mich nicht, August!«, sagte sie schnippisch. »Ab heute bin ich Mamsell Clara für dich.«
Doch August ließ sich nicht aufhalten, sondern lief weiter die Treppe hinauf. »Niemals!«, schnaubte er und machte, ohne sich nach Clara umzudrehen, eine wegwerfende Handbewegung. »Eher beiße ich mir die Zunge ab.«
Auch Clara drehte sich nicht
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